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Feuer unterm Hintern

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Alle drängen in die Mitte und mittendrin sitzt der grüne Ministerpräsident. Ob das funktioniert, um des Machterhalts willen – wer weiß? Genug ist es jedenfalls nicht, weil das Land mehr braucht, als weiter so. Die BürgerInnen, die einst mit Winfried Kretschmann aufgebrochen sind, wollen Bewegung, eine solidarische Gesellschaft, die auch das Unten im Auge hat. Dazu muss Feuer untern Hintern. Ein Kommentar.

Neulich auf Arte: "Stuttgart – das neue Seattle." Hoppla, denken sich die Schwäbin und der Schwabe, was ist da passiert? Wird doch nix schiefgegangen sein. Man kann ja nie wissen. Nein, ist es nicht. Die Punkband Die Nerven wurde vom bilingualen Kulturkanal geadelt, mit einem langen Beitrag. Das sei der Ritterschlag, sagt Kontext-Volontärin Elena Wolf, die nebenbei noch die Frontfrau von Ursus macht, ebenfalls einer Punkband. Und danach streift die Kamera durch verkiffte WGs, durch die ebenso ungekehrten Wagenhallen, das Eldorado für alle Kreativen am Neckar, um schließlich mit der O-Ton-Frage zu enden: Was geht eigentlich gerade in Stuttgart ab?

Tja, liebe Berliner, Exilschwaben und sonstigen Nicht-Baden-Württemberger, da ist einfach Musik drin, im südwestlichen Zipfel der Republik. Selbstverständlich sei an dieser Stelle an Stuttgart 21 erinnert, an den beharrlichen Widerstand gegen ein blödsinniges Immobilienprojekt. Und genauso nachdrücklich sei betont, dass dessen Bau nur in Berlin als gesichert gilt beziehungsweise dessen Gegner zu Toten erklärt werden. Das ist nicht so, denn in den Köpfen lebt das Aufständische weiter. Da fragt mal den linken Theatermann Volker Lösch, dessen Furor ungebrochen ist. Er will den S-21-Protest gar zum Prinzip erheben. Gegen alles, was finster ist. Pegida, AfD, Fremdenhass. Das Rebellische in diesem Landstrich kommt langsam, hält dafür aber auch länger.

Immerhin war Kretschmann auch mal beim KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Nun verteilt der Ministerpräsident längst keine KVZ mehr vor den Werkstoren, was seinen Landeskindern womöglich unheimlich erschienen wäre. Aber a bissle erweckt er noch den Eindruck, als sei er ganz bei ihnen. Jedenfalls näher als Guido Wolf (CDU), das politische Phantom, das bundesweit erst aufgefallen ist, als es der Kanzlerin ein Plüschtier überreicht hat. Jener Wolf, so heißt es, durfte den Herausforderer nur deshalb geben, weil sein Mitbewerber, der Schäuble-Schwiegersohn Thomas Strobl, einen kapitalen Fehler gemacht hat: eine Homestory in der "Bunten". Ein Häusle baut man, zeigt es aber nicht. Zumindest nicht bei den Schwarzen.

Die Grünen sind da offener. Kretschmann bekennt sich zu seinem dicken Dienst-Daimler, weil er in Mercedes-City keinen Fiat fahren kann, sein Bündnis freut sich über einen dicken Scheck des Arbeitgeberverbands Südwestmetall und verkündet, es sei die "neue Wirtschaftspartei" im Südwesten. Mit Vollgas ins Silicon Valley von Deutschland. Missgünstige Menschen sprechen auch von einer grünen FDP. Von der SPD spricht eigentlich niemand mehr. Es sei denn mit zuckenden Schultern.

Nun ist die Frage, wie hoch das Empörungspotenzial ist, links von der Mitte, in der sich CDU, SPD, FDP und Grüne auf den Füßen stehen. Es ist ja nicht so, dass alle Kretschmann umschwärmen wie die Motten das Licht. Die leidenschaftlichen S-21-Gegner gewiss nicht. Jene, die sich viel mehr vom "Gehörtwerden" versprachen, nicht. Jene, die mehr soziale Gerechtigkeit fordern, nicht. Jene, die eine solidarische Flüchtlingspolitik wollen, nicht. Jene, die einfach mehr Punk und Power wollen, nicht.

Wie groß diese schwäbisch-badische APO ist, weiß niemand. Aber Obacht: Stuttgart ist nicht nur die Hauptstadt des Feinstaubs und der Staus, Stuttgart ist auch eine Metropole der Demos. Rein rechnerisch finden hier 3,39 Protestaktionen am Tag statt, summa summarum 1239 im Jahr 2015, mit viel Besuch von auswärts. Ja, es kann ganz schön bunt sein in dieser Stadt, in der es eben nicht nur Daimler, Porsche und Weindörfer gibt. Wohin das Bunte wandert, so es denn in einer Urne landet, kann niemand vorhersehen.

Klar ist nur, dass ein Weiterso, eine große Koalition der geschmeidigen Mitte, stinklangweilig wäre. Ein Zurück zu Kittelschürze und Kehrwoche – ein Albtraum. Die "Lümmel im Landtag", wie unsere Volontärin schrieb, brauchen dringend Feuer unterm Hintern. Wir wollen doch, dass das Musterland, ganz selbstbewusst, ein Muster wird für Menschen, die sich noch richtig empören können. Und gehört werden.


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21 Kommentare verfügbar

  • Joachim Gras
    am 11.03.2016
    Antworten
    Schwarz-Grün bedeutet die Rückkehr von Strobel und Konsorten an die Fleischtöpfe. Wer das verhindern will, muss links wählen:
    Grün-Rot-Rot hätte eine Mehrheit, wenn die Linke ein Prozent zulegt.
    Nicht schwarz ärgern, links wählen!
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