KONTEXT:Wochenzeitung
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Harry's Poem

Harry's Poem
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Im Alltag und in der Literatur finden sich tradierte Lebens- und Denkmuster, die vielen kaum noch bewusst sind. Dabei haben sie eine zeitaktuelle Bedeutung. Vor allem vermitteln sie strukturiertes Denken – eine Kompetenz, die in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig ist. Die Kontext:Wochenzeitung putzt diese Denkmuster wieder blank, in einer fortlaufenden Erzählung. In dieser Ausgabe droht Gefahr: Vorsicht, bissige Parodie!

Der Hofnarr war nicht unbedingt ein Dichter, aber er durfte den Herrschenden die Meinung sagen.
Auf der Terrasse des schmucken Einfamilienhauses hörte man Vogelgezwitscher. Der große Holztisch war gedeckt. Neben vier blumenverzierten Tellern lagen Messer, Gabel und Löffel in akkurater Ordnung, die Kaffeetassen und Eierbecher trugen dasselbe Flora-Motiv wie die Teller, farblich wiederum harmonierend mit der glatt gestrichenen Tischdecke.

Als Stefan, Manuela und Wolf Platz nahmen, war für das "Revival Breakfast" längst alles vorbereitet. Verschiedene Wurstsorten, mit Minitomaten garniert, lagen symmetrisch drapiert auf einem Holzbrett. Kaffee, Eier und Speck hatten Wohlfühl-Temperatur, und das Obst lachte lecker aus einer Schale.

"Du bist eine tolle Hausfrau", sagte Manuela.

"Es geht so", antwortete Doris, während sie die in einem geflochtenen Korb angehäuften Brötchen noch einmal ordnete. "Weißt du, Uli mag es, wenn alles wie im Restaurant aussieht. Auf so was legt er großen Wert. Er kennt das eben von seinen Dienstreisen."

"Hallo, Mama", riefen Doris' Kinder vom Balkon herunter, "was sollen wir tun?"

"Ihr könnt doch ein Puzzle machen. Oder spielt an eurem Playmobil-Schloss weiter. Ihr könnt aber auch hoch zu Oma gehen."

Doris seufzte. "Kinder wollen immer beschäftigt sein."

"Aber sie sind doch lieb", sagte Manuela.

"Ja, das stimmt. Wir können uns nicht beklagen."

Doris' Mann betrat die Terrasse und begrüßte die Gäste kurz. "Ich bin auf dem Sprung. Muss noch mal ins Büro. Nicht mal am Sonntag hat man seine Ruhe."

Bevor Uli wieder im Haus verschwand, drehte er sich noch einmal um. "Na, geht's heute wieder um Romantik? Eure Reise scheint ja wirklich interessant gewesen zu sein. Doris hat erzählt, dass ihr euch mit Gedichten und Mittelalter beschäftigt habt. Viel Cultura in Bella Italia?"

"Es ging aber auch um Liebe", sagte Stefan mit leichtem Unterton in der Stimme, "das kann ganz schön spannend sein: wer in einer Beziehung zum Beispiel Subjekt ist und wer Objekt." Doris lief rot an.

Uli wirkte überrascht. "Ach so, über so was habt ihr auch geredet." Er schaute Doris an. Dann sagte er: "Mitunter tut es schon gut, sich mit solchen geistigen Dingen zu beschäftigen."

"Und es ist ja auch nicht zu teuer", sagte Stefan staubtrocken.

Liebesdiskurs im Eigenheim

Doris schwieg, bis Uli gegangen war. Dann legte sie Zeitungsausschnitte auf den Tisch. "Schaut mal, beim Lesen ist mir das aufgefallen. Irgendwie hat es mit unseren Themen zu tun."

Auf einem Zeitungsausschnitt war ein Foto zu sehen, das einen jungen Schauspieler mit seiner Freundin zeigte. Beide, so stand unter dem Bild, lesen sich gegenseitig Gedichte vor. Wenn sich die beiden länger nicht sehen könnten, schrieben sie sich poetische Liebeserklärungen per SMS. Als er vor Kurzem in den USA drehte, habe seine Freundin gesimst: "Die Sonne geht auf, und ich blinzele hinein und erkenne Dein Gesicht darin."

"Ist das nicht schön?", sagte Doris. "Da scheint die Liebe wirklich wechselseitig zu sein."

"Zumindest sind es schöne Zitate", meinte Manuela. "Fast bühnenreif. Das sind halt Schauspieler, die wissen, wie's geht."

Dann wandte sich Manuela an Stefan: "Soll ich dir auch mal bei Sonnenaufgang eine poetische SMS schicken?"

"Warum nicht", sagte Stefan, und irgendwie klang es erwartungsvoll.

Manuela schmunzelte. "So früh, kurz nach Mitternacht, hätte ich Probleme, überhaupt deinen Namen schreiben zu können. Geschweige denn, dein Gesicht in der aufgehenden Sonne zu erkennen. Um diese Zeit blinzele ich höchstens auf den Wecker, und das mit Schrecken. Das sieht dann wohl wenig romantisch aus."

"Es käme auf den Versuch an", sagte Stefan.

Er wirkte aufgekratzt. Wahrscheinlich hatte er bei seinen Chefs Pluspunkte geholt, dachte Wolf mürrisch, kürzlich an diesem "Musenabend", als er Stefans Managerkollegen von den Denkmustern erzählt hatte und irgendein Boss es "wirklich interessant" gefunden hatte.

"Sag mal, Stefan, wer war denn dieser ältere Cheftyp von deiner Firma, der bei unserem Musen-Meeting das Wort führte und dich so rumkommandierte?", fragte Wolf.

Stefan stockte. "Das ist ein Vorstand von uns."

"Das hättest du mir aber auch vorher sagen können."

"Du, der Abend lief wirklich gut. Wir haben schon überlegt, dass wir auch mal Künstler einladen, vielleicht auch einen Philosophen, und die halten dann Vorträge bei uns."

"So mit Häppchen und anschließenden gemütlichen Geschäftsgesprächen", sagte Wolf bissig.

"Ja, das kommt gut."

"Du hast doch einen Sinn für Parodie?"

Stefan schaute überrascht. "Klar, warum?"

"Eigentlich wollte ich deinen Leitenden noch ein Gedichtchen vortragen, so was zur mittelalterlichen Gattung der Pastourelle, in der sich Ritter unter der Linde an der Heide mit einer Schäferin verlustifizieren – nur aus heutiger Sicht."

"Warum hast du es denn nicht gemacht?"

"Weil du schon blass genug aussahst, als ich von den Millionengehältern der Manager anfing."

Stefan schaute indigniert. "Und wie geht dieses Gedicht?"

Wolf kannte es auswendig.

In dem kleinen Appartement
Mit dem großen Bett
Suchte er sein Amüsement.
Und er fand sie dümmlich-nett.
Vor der Tür stand stumm sein Ruf,
Tandaradei,
Er war Manager von Beruf.
Und er forderte von ihr,
Preisgerecht zu liegen,
Grunzte wie ein wildes Tier,
Wollte sie als Held besiegen.
Doch die sonst so große Macht,
Tandaradei,
Hat versagt in dieser Nacht.

Schamlos lachte sie ihn aus,
Ganz entgegen dem Vertrag,
Warf termingerecht ihn raus,
Vor der Tür er heulend lag.
Und er suchte neue Ehr,
Tandaradei,
Wieder im Geschäftsverkehr.

Moral von der Geschicht':
Was die Ritter damals trieben,
Lustvoll unterm Lindenbaum,
Wird zwar heute noch betrieben,
Doch sind's Ritter noch? Wohl kaum.
Stehn sie finanziell auch oben,
Haben sie zwar große Ehr,
Doch die unten liegen, loben
Sie deswegen längst nicht mehr.

Stefan verzog das Gesicht. "Ha, ha, sehr witzig, selten so gelacht. Wir Manager müssen für viele Legenden und Klischees herhalten."

"Komm, so unrealistisch ist das doch nicht", sagte Manuela. "Die Gesichter deines Vorstands und deiner Kollegen hätte ich schon sehen wollen, wenn sie dieses Gedicht gehört hätten."

"Da stehen wir doch drüber", meinte Stefan und machte eine betont lässige Handbewegung.

"Wer's glaubt, wird selig", sagte Wolf. Dass er diesen Satireversuch selbst verfasst hatte, als Rache, an jenem Tag, als Stefan wegen der "Romantik-Scheiße" über ihn hergefallen war, verschwieg er. Jetzt kam es ihm vor, als wäre das schon lange her.

Harald Schmidt trifft Neidhart von Reuental

Manuela grinste. "Kennt ihr diesen Spruch? Norwegen ist das teuerste Land Europas: Flasche Johnny Walker 78 Mark, Dose Becks 6,79 Mark – dort erkennt man Besserverdienende daran, dass sie besoffen am Hauptbahnhof herumliegen."

Stefan schaute sie fragend an. "Soll ich das jetzt auch auf mich beziehen?"

"Ach was, das ist von Harald Schmidt. Ich liebe ihn! Viele mögen ihn ja nicht, weil er oft so scharf ist. Sicher, er überzeichnet oft, um zu provozieren. Aber das ist das Recht eines Satirikers. Ich finde, mit seiner Art von Parodie entlarvt er häufig unsere Realität."

"Und immerhin ist er aus unserer Heimatstadt", sagte Doris mit leichtem Pathos. "In seinen Shows bringt er immer wieder was von Nürtingen."

"Das stimmt", sagte Manuela. "Wisst ihr noch, wie er das Modell unseres Bahnhofs präsentierte? Zum Kringeln. Wochenlang wurde in der Stadt dann gesammelt und diskutiert, bis man das Modell kaufte. Wenn er von Nürtingen spricht, schwäbelt er immer bewusst. Da legst du dich hin."

Harald Schmidt und der Dichter Neidhart von Reuental haben eines gemeinsam: Sie überzeichnen gerne.

"Aber bei den Frauen, die mit ihm in Nürtingen zur Schule gingen, scheint sich die Begeisterung über ihn in Grenzen zu halten", sagte Stefan. "Als ein Fernsehsender ihn mal mit den alten Klassenkameraden aus dem Hölderlingymnasium zusammenbringen wollte, sagten viele Mitschülerinnen ab – er muss sie damals schwer angemacht haben. Und die alte Rektorin sagte, wegen ihm habe sie graue Haare bekommen."

"Mal im Ernst", sagte Manuela, "seit Italien habe ich öfters über Harald Schmidt nachgedacht. Ich glaube, er hat mit diesem mittelalterlichen Dichter Neidhart von Reuental und der verkehrten Welt einiges gemein. Denkt mal daran, wie der Neidhart die Minne-Welt einfach umdreht und in seinen Gedichten das alte Weib einen Jungen anmacht. Oder das mit dem Knecht und dem Ring aus Schamhaaren. Neidhart stellt die bekannte Welt auf den Kopf, weil sie verrückt geworden ist. Ähnliches macht doch auch Harald Schmidt. Der verzerrt auch, überzeichnet, verkehrt das, was wir kennen und denken, ins Gegenteil. Nehmt zum Beispiel mal den Spruch, in dem er die Ikea-Werbung veräppelt: 'Wohnst du noch oder lebst du schon – auf der Straße?' Er macht einen kleinen Zusatz, und schon hat er politische und soziale Wirklichkeit karikiert. Das ist mehr als nur ein Gag. Er beschreibt auch eine verrückte Welt."

Wenn Realität ummontiert wird

Stefan stöhnte. "Was ist nur aus uns geworden? Jetzt interpretieren wir schon die Witze von Dirty Harry." Er spitzte die Lippen. "Unter Einbeziehung der sozialkritischen mittelalterlichen Minnelyrik des Neidhart von Reuental und dessen provozierenden Motivs des schamhaarigen Ringes. Warum macht ihr nicht gleich eine Doktorarbeit über Harry und Neidhart?"

"Wer Lyrik und Mittelalter in seinem Betrieb als Musen-Show vermarktet, sollte sich mit Ironie zurückhalten", sagte Manuela.

Stefan gab sich geschlagen. "Ich habe verstanden."

"Es ist doch ganz spannend, diese Hoffnarr, Dichter oder Sprücheklopfer? Das ist Geschmackssache.Denkmuster aufs Heute zu beziehen", fuhrt Manuela fort. "Man sieht manches anders oder neu." Sie zog einen Zettel aus ihrer Tasche. "Ich habe mir einige Harald-Schmidt-Sprüche aus dem Internet runtergeladen. Wenn man genauer hinhört, merkt man, wie er mit alltäglichen Teilen und Versatzstücken von Realität spielt und sie zusammenmontiert. So ergeben sie einen neuen Zusammenhang. Der ist verrückt, aber realistisch."

"Hört mal", sagte sie und las von ihrem Zettel ab. "Taxifahrer sind die Karrieretypen unter den Germanisten."

"Die Bergwacht sagt, das Leben in einer Lawine ist kurz, aber it's cool, man."

"Bei Aldi gibt es jetzt die Bibel, denn den Koran haben die meisten Kunden ja schon."

"Venedig stirbt aus, junge Leute ziehen weg, Geschäfte machen zu. Die Zustände sind so trostlos – man nennt in Italien die verbliebenen Italiener schon Gondel-Ossis."

"Schmidt-Schnauze, wie er leibt und lebt", sagte Stefan, "aber hast du da nicht etwas zu viel reininterpretiert? Für mich ist er einfach ein riesiger Sprücheklopfer."

Manuela schüttelte den Kopf. "Ich glaube, es ist kein Zufall, dass solche Parodien gerade heute diesen Erfolg haben. Sie passen in eine zerbröselnde oder schon zerbröselte Welt. Oder anders gesagt: Weil die Welt und das Leben sich auflöst und zerteilt, hat Satire und Parodie Hochkonjunktur – das war damals wohl so, und es ist heute so."

Das frühe Werk des Dirty Harry

Diese Manuela, dachte Wolf. Den alten Neidhart mit Harald Schmidt in einen Bezug zu stellen, als satirische Kommentatoren einer verkehrten Welt, das war einfach klasse. Genau so, wie sie Parodie erklärt hatte: einzelne Realitätsfragmente oder Wortteile herausgreifen und neu montieren – genau das war's doch, natürlich, das sind Formzeichen einer zersetzten, nominalistischen Welt. Ihm gingen ganze Lichterketten auf.

Bewundernd sah er Manuela an. Stefan schien das bemerkt zu haben. "Na, da bleibt dir die Spucke weg? Manuela hat das mit der verkehrten Welt pfiffiger erklärt als du. Jetzt hab's auch ich verstanden."

"Du könntest sie ja bei deinem Boss als Musen-Managerin vorschlagen", sagte Wolf, "was meinst du, was das Pluspunkte bringt."

Das war eine Spur zu scharf, dachte Wolf. Jetzt hatten die anderen wohl gemerkt, dass er eigentlich neidisch war, neidisch auf die selbstverständliche Art, mit der Manuela "sein" Mittelalter weiterdachte.

Er suchte nach einem raschen Ablenkungsmanöver. "Harald Schmidt wird oft verkannt. Eigentlich ist er, was kaum jemand weiß, ein sensibler Lyriker", sagte Wolf.

"Wie meinst du das?", fragte Stefan.

Wolf erzählte die Geschichte von dem Poesiealbum einer Nürtingerin, in das Harald Schmidt vor mehr als 25 Jahren ein Gedicht gehaucht hatte – ohne dazu eingeladen worden zu sein. Die Nürtingerin ging damals in die sechste Klasse des Hölderlingymnasiums. Ihr verschließbares Büchlein mit dem rot geblümten Umschlag hütete sie wie ihren Augapfel. Freundinnen hatten sich darin verewigt, mit Herz und Schmerz, Sonnenschein und Fröhlichsein. Sie hatte es immer dabei. Bis zu jenem 28. März 1977. Die Elfjährige hatte das Album im Klassenzimmer vergessen. Der 19-jährige Harald Schmidt kam, sah und schrieb – auf Seite 43, gleich nach dem Eintrag der Mathe-Lehrerin:

Es wird im Leben
Dir mehr genommen als gegeben!
Drum hau' den andern übers Ohr,
eh' er Dir selber kommt zuvor!

Darunter schrieb er: "Zur Erinnerung an Deinen Freund Harald Schmidt." Er kannte das Mädchen gar nicht.

"Harald Hölderlin", feixte Stefan.

"Gibt's dieses Poesiealbum mit seinem Gedicht wirklich?", fragte Doris, und es klang höchst interessiert.

"Ja."

"Romantik auf der ganzen Linie", sagte Manuela grinsend.

Stefan nickte. "Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass wir bei unserem Revival Breakfast inzwischen nur noch von solchen Dingen reden? Ich schlage vor, dass wir es umbenennen – in Romantic Breakfast."

"Gute Idee", sagte Manuela. Sie sinnierte. "Wie wär's, wenn wir mal ein romantisches Gipfelgespräch machen? Die Politiker veranstalten doch dauernd Gipfelgespräche, wenn es um wichtige Dinge geht."

"Ist das jetzt auch Parodie?", fragte Doris unsicher.

Manuela schüttelte den Kopf. "Nein, nur manchmal sollte man die Dinge wörtlich nehmen."

Stefan schnippte mit den Fingern. "Dann lass uns den nächsten Romantik-Treff auf einem Berg machen. Das wäre der Gipfel!"


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