KONTEXT:Wochenzeitung
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Die Muse

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Im Alltag und in der Literatur finden sich tradierte Lebens- und Denkmuster, die vielen kaum noch bewusst sind. Dabei haben sie eine zeitaktuelle Bedeutung. Vor allem vermitteln sie strukturiertes Denken – eine Kompetenz, die in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig ist. Die Kontext:Wochenzeitung putzt diese Denkmuster wieder blank, in einer fortlaufenden Erzählung. In dieser Ausgabe werden Manager damit konfrontiert, dass sie eigentlich Lyriker sind.

Strukturiertes Denken ist in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig.
Ciao, Italia. Das romantische Quartett war zurück im deutschen Alltag. Stefan managte sich wieder durchs Firmen-, Doris durchs Familienleben. Manuela buchte für Fremde die All-inclusive-Flucht in exotische Idyllen, und Wolf beschäftigte sich weiter mit seiner Lyrik und den Denkmustern.

Abends rief ihn Stefan an. "Sag mal, Wolf, hast du in den nächsten Tagen mal Zeit?"

"Wofür? Sollen wir einen heben gehen?", fragte Wolf.

"Nein, ich habe da eine Idee. Wie wär's, wenn du bei uns in der Firma mal über Lyrik, Mittelalter und so referieren könntest?"

Seit ihrer Italienreise musste sich einiges verändert haben. Stefan sprach nicht einmal mehr von "Kram", die Begriffe "Lyrik" und "Mittelalter" schienen ihm plötzlich so locker über die Lippen zu gehen wie Effizienzsteigerung oder Shareholder-Value. Und jetzt auch noch das. Poesie in der Chefetage?

Stefan machte den Eindruck, als ob er vom Normalsten der Welt reden würde. "Weißt du, ich dachte mir, wir testen mal, wie das Ganze bei unseren Leitenden ankommt. So nach dem Motto: Muße für Manager. Du musst ja nicht gleich von Realismus, Nominalismus und Universalienstreit anfangen."

"Was soll's denn sein, hast du irgendwelche besonderen Wünsche?", knurrte Wolf.

Stefan schien unbeirrt: "Vielleicht ein bisschen Jahreszeiten-Schema am Anfang, dann der Hattrick mit allem Drumrum, verkehrte Welt kommt vielleicht auch ganz gut. Auf jeden Fall solltest du aber diese Sex-Geschichte am Morgen bringen – und vor allem Fortuna. Das ganze Programm."

"Warum nicht Liebe?"

"Ach, das ist ziemlich kompliziert. Und eher was Persönliches."

Wolfs Zähne mahlten. "Ist notiert. Soll's noch was zum Dessert geben?"

Stefan lachte. "Guter Gag. Hast du übermorgen Zeit?"

"Ja, das geht", sagte Wolf kurz.

"Um neunzehn Uhr? Wir sind insgesamt an die fünfzehn Leute. Es gibt auch eine Kleinigkeit zu essen und trinken."

"Ja." Wolf legte auf.

"Programm" hatte er gesagt. Programm! War er denn der mediävistische Pausenclown? Wolf begann seine vorschnelle Zusage zu bereuen. Doch irgendwie reizte es ihn doch. Immerhin hatte er eine Mission.

Mittelalter im Meeting-Room

Zwei Tage später betrat Wolf den Meeting-Room in Stefans Unternehmen. Am Eingang kredenzte eine durchgestylte CEO-Assistentin Mineralwasser und O-Saft. Drinnen saßen vierzehn Entscheidungs- und Krawattenträger, die feinen Anzüge hatten sie abgelegt. Mußemäßig. Eine Entscheidungs- und Rockträgerin verlor sich auch im voll klimatisierten Meeting-Room.

Stefan, in derselben noblen Verkleidung wie seine Kollegen, hatte Wolf mit Stolz in der Stimme zugeflüstert: "Es sind alle gekommen."

Manchem Manager geht mit der Lyrik ein Morgenlicht auf.

Wolf war nervös. Hypernervös. In der Öffentlichkeit hatte er noch nie über seine Obsessionen gesprochen. Und jetzt schauten ihn lauter Stefans an, und zwar Stefans vor der romantischen Italienreise, gönnerhaft bis skeptisch. Der Fluchtreflex trat ein. Doch die durchgestylte CEO-Assistentin hatte mit einem durchgestylten Lächeln bereits die Tür geschlossen. Wolf war gefangen. Plötzlich flogen ihm zwei Sätze aus seinem blauen Aktenordner durch den Kopf: "Lassen Sie sich nicht ins Mittelalter einsperren. Aber auch nicht in die Neuzeit." Kafkaesk.

Die Bosse hören Hölderlin

Fünf Minuten und eine umständliche Begrüßung später hörte Wolf sich irgendetwas von Jahreszeiten, Wandel in Raum und Zeit, Sommer, Freude, Kommunikation und Winter, Trauer, Isolation reden. Als er das mittelhochdeutsche Sommerlied von Gottfried von Neifen rezitierte, sah er aus den Augenwinkeln, wie manche der Manager das Gesicht verzogen. Bei Hölderlins "Hälfte des Lebens" aber schienen sie aufzuhorchen. "Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen" – begannen die Bosse im voll klimatisierten Meeting-Room zu frösteln?

Den Hattrick im Fußballstadion, bei den Germanen, in der Kirche und in den TV-Werbeblocks quittierte das ungewöhnliche Publikum mit wohlwollendem Kopfnicken. Als Wolf die leitenden Herren plus Dame fragte, ob die magische Drei auch beim Vorstands-Trio ihres Unternehmens für Vollkommenheit steht, gab es vereinzelt herzliche Lacher. Das "Programm" schien doch anzukommen, dachte Wolf.

Stefan blinzelte ihm einige Male zu. Als er das Tagelied brachte, Romeo und Julia, den Zeit-Raum zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht oder die "Sex-Geschichte am Morgen", wie Stefan es nannte, hatte Wolf den Eindruck, dass manche der Musen-Manager zuweilen eine Spur zu hektisch oder nervös schmunzelten. Vielleicht täuschte er sich auch, klischeemäßig. An der Stelle, wo in der alten Tagelied-Gattung plötzlich DDR-Realität hereinbricht und Wolf Biermanns Kuckuck als IM ruft, entfuhr einem der Zuhörer ein überraschtes "Ach so". Ihm schien ein Morgenlicht aufgegangen zu sein.

Rangkämpfe früher und heute

Wolf fühlte sich sicherer. Zum Glück. Denn jetzt kamen die härteren Brocken, da konnte er nicht rumflattern wie eine aufgescheuchte Nachtigall oder Lerche. Beim Thema verkehrte Welt konzentrierte er sich vor allem auf die erste Strophe von Walthers "Reichston". "Ich saz ûf einem steine ...", das war den meisten bekannt, die Reaktionen im Publikum zeigten es. Wolf erzählte von der historischen Realität damals, vom Machtvakuum, der Doppelwahl, vom Bürgerkrieg. Dann von Frieden und Recht, das Walther wieder hergestellt wissen will, von pervertierter Ordnung und dem agitatorischen Aufruf des Politdichters zur Umkehr: "Krönt den Staufer Philipp!"

Die Entscheidungsträger im Meeting-Room schienen konzentriert zuzuhören, manche hatten eine Hand an die Denkerstirn gelegt. Wolf wurde übermütig. "In manchen Großunternehmen soll es ja auch zuweilen heftige Kämpfe um die Rangordnung geben", sagte er. Stefan sah plötzlich blass aus. Wolf schmunzelte innerlich. Stefan befürchtete wohl, dass er jetzt Betriebsgeheimnisse und seine intimen Karrieregedanken ausplaudern würde.

Anschauliche Denkmuster haben etwas Originelles.

"Öffentliche Debatten über Werte in der Wirtschaftswelt haben wir ja auch immer wieder", fuhr Wolf fort, "man denke nur an die Millionengehälter von Vorstandschefs, die finden manche ja unmoralisch." Stefan schien noch blasser zu werden. Wolf kratzte die Kurve. "Welche politische Wahlempfehlung Walther heute in Berlin geben würde, vermag ich nicht zu sagen." Die Manager schmunzelten. Stefan wirkte wieder erleichtert.

Stillstand als höchstes Glück – nicht möglich!

Dann ging es ans Glück, an Kreis und Weg. Wolf beamte das Bild der alten Fortuna an die Wand, die unaufhörlich ihr Rad antreibt und die Herrschenden darauf aufsteigen und runterpurzeln lässt. "Im tradierten Glücksdenken ist nicht Fortschritt, das Immer-weiter Ausdruck höchsten Glücks, sondern Stillstand."

Das Wort "Stillstand" hatte Wolf betont langsam und breit ausgesprochen. Die Manager richteten sich in ihren drehbaren Meeting-Sesseln auf. Sie wirkten erstaunt, irritiert. Manche kratzten sich intensiv am Kopf. Der überraschende Dreh bei dieser Denkstruktur schien nicht nur bei Stefan Wirkung zu zeigen.

Der Fluchtreflex hatte sich längst zurückgezogen. Jetzt fand Wolf die exotische Situation spannend: In einer Hochburg von Hightech-Rationalisten über Lyrik, Mittelalter und die Bezüge zu heute zu reden, das hätte er sich vor Kurzem nicht im Traum vorstellen können. Stefans vernichtender Verriss seiner These, dass gerade Manager zu Gedichten viel mehr Bezug hätten, als sie wahrhaben wollten, war ihm noch völlig präsent.

Warum Manager eigentlich Dichter sind

Vorsichtig deutete er jetzt die These an, sprach davon, dass Manager manche Entscheidungen doch intuitiv treffen, aus dem Bauch heraus, und diese dann rationalisieren. So wie Lyriker Gefühle, Lebenserfahrungen und Ereignisse in kurzer Form verdichten. Gute Lyrik sei daher keine sentimentale Herz-Schmerz-Veranstaltung, sondern die rationalste Form von Dichtung. Wolf sah, wie Stefan zu grinsen begann. "Herz-Schmerz-Quark" hatte er vor Kurzem noch gesagt.

Die Zuhörer im Meeting-Room räusperten sich. "Interessant. Doch, das ist wirklich interessant", sagte ein älterer Entscheidungs- und Krawattenträger, der wegen seiner lässig-gewichtigen Gestik noch etwas leitender wirkte als die anderen Leitenden. "Wenn Literatur so präsentiert wird, in solchen anschaulichen Denkmustern, das hat was Originelles."

Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu blicken.

Der Manager lehnte sich in seinem drehbaren Sessel zurück. "Wissen Sie, unsereins hat wenig Zeit, sich intensiver mit Literatur oder gar mit Mittelalter zu beschäftigen." Einige Leitende nickten ihm heftig zu, was Wolfs Eindruck verstärkte, dass es sich um einen besonderen Boss unter den Bossen handeln musste. "Interessant", hatte er gesagt. Das klang wohlwollend – oder doch eher nach "Er hat sich redlich bemüht"?

"Das ist mal was anderes", sagte ein anderer Manager, "dieses Glücksbild zum Beispiel regt einen schon zum Nachdenken an. Irgendwie befindet sich ja vieles in einem stetigen Kreislauf."

"Auch das Geld", kam schmunzelnd aus einer anderen Ecke. Ein jüngerer, smart aussehender Zuhörer meldete sich: "Das mit den Gedichten ist ja alles gut und schön. Aber – was nützt mir das? Was bringt mir das in meinem Job? Marketing zum Beispiel ist ein hartes Geschäft und keine Poesie."

Geschäftsberichte in Reimen?

Wolf war perplex. Darauf war er nicht vorbereitet. Lyrik konnte man doch nicht nach betriebswirtschaftlichen Nützlichkeitskriterien beurteilen, dachte er empört. Wolf erinnerte sich an die bissige Frage von Stefan, ob er künftig seine Geschäftsberichte gereimt vortragen soll. Bilanz ziehen bei Walther von der Vogelweide, eine Kosten-Nutzen-Rechnung bei Hölderlin? Das wäre doch grotesk. Obwohl, die Frage des Jungmanagers war auf eine Art auch spannend, dachte Wolf. Immerhin hatte er Literatur in einen Bezug zu seinem Job und damit zu sich selbst gestellt, wenn auch sehr skeptisch und kritisch. Wollte er das nicht eigentlich?

Die Managerrunde sah Wolf an, wartete auf eine Antwort. Er fühlte bohrende Blicke, schwieg aber immer noch. Zu sehr hatte ihn die Frage irritiert. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Plötzlich hörte er Stefan sprechen: "Ich glaube, es geht nicht darum, ob die Beschäftigung mit Literatur oder Mittelalter uns einen direkten Nutzen bringt. Sondern es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu blicken und unter Umständen neue Denkmuster zu bekommen. Und neue Bilder."

Der Leitende, der wie ein leitender Leitender wirkte, nickte. "Das ist richtig. Seminare und Vorträge über neue Kostenabrechnungssysteme oder Marketingstrategien gibt es schon genug. Da hören die Mitarbeiter, die man dorthin schickt, immer dasselbe, und sie treffen auch immer wieder dieselben. Ich glaube, es ist die Zeit für so was – für so was anderes. Auch wenn es mit unserer unmittelbaren Arbeit nichts oder nur wenig zu tun hat. Meine Damen und Herren, ich glaube, Vorträge dieser Art könnten wir öfters machen. Das ist unterhaltsam, und man lernt noch was dabei."

Stefan hob den Finger, fast wie in der Schule: "Ich würde vorschlagen, dass wir eine kleine Veranstaltungsreihe machen. Titel: Muse für Manager. So im kleineren Rahmen. Dazu könnten wir auch Geschäftspartner einladen. Im gemütlichen Teil nach den Vorträgen kann man sich zwanglos mit ihnen unterhalten. Bei so was entsteht manchmal mehr als bei offiziellen Terminen."

Der Boss-Boss schaute zu Stefan: "Gute Idee. Sie managen das."

Dann kamen die Häppchen.


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