KONTEXT:Wochenzeitung
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Adieu, Generation Zeitung

Adieu, Generation Zeitung
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Die Gesellschaft verliert das Gefühl für die Bedeutung der klassischen Printmedien. So wie in einer Beziehung, in der die Partner zu spät bemerken, wie sehr sie sich über die Jahre fremd geworden sind. Das verändert das Verhältnis zur Demokratie. Nicht zum Besseren. Ein Kommentar.

Stuttgart, Ende Juni 2015. Die Stadt hat viele Themen, vom schlechten Wetter über den Megastau wegen eines Helene-Fischer-Konzerts, der "singenden Sagrotanflasche", wie sich einer der unzähligen Foristen ereifert, bis zur Dauerfrage, wann denn der Fernsehturm endlich wieder öffnet. Der Niedergang der Pressevielfalt gehört nicht dazu. Keine Waschkörbe Leserbriefe, kein Shitstorm im Netz, keine Sponti-Aktionen.

Stattdessen der Protest gegen den neuen "Stuttgarter Weg", die weitgehende Zusammenlegung von "Stuttgarter Nachrichten" und "Stuttgarter Zeitung", von gerade mal 60 Werktätigen vor der Toren des Möhringer Druck- und Verlagszentrums, eine Handvoll Solidaritätsadressen wie die von der Gewerkschaft Verdi. Kein Mucks von den Goliaths anderer Branchen, den großen Namen der Region, die dem Land die Wirtschaftskraft sichern und sonst gern öffentlich mahnen, appellieren oder fordern. 

David kämpft für Goliath, und eine langsam dahinschwindende Ü 50 lässt sich milde belächeln, wenn sie das Hohelied auf die 30-Minuten-Lektüre beim Frühstück singt und auf die Autorität der Tageszeitung. Weil doch nur sie – anders als der Konkurrent Internet – den Anspruch erhebt und ihn auch leidlich erfüllen kann, möglichst viele Menschen möglichst zeitgleich auf einen möglichst hohen gemeinsamen Wissensstand zu bringen.

Diese 30 Minuten sind das Maß der Dinge seit Jahrzehnten. "Wenn die Leser im Durchschnitt die Tageszeitung eine halbe Stunde zur Hand nehmen, ist es selbstherrlich, sie mit drei Stunden Lesestoff zu belasten", schrieb Peter Glotz Verlegern und Redaktionen Anfang des Jahrtausends ins Stammbuch. Der Satz ist zitiert in Dutzenden Arbeiten, Studien, Untersuchungen, Abhandlungen oder Magisterarbeiten zur Zukunft des gedruckten Wortes. Und unzählige Autoren wundern sich, warum so wenige Schlüsse gezogen wurden aus solchen und vielen anderen Erkenntnissen. 

Der ehemalige Verdi-Mediensekretär Gerhard Manthey fragt sich in <link http: www.kontextwochenzeitung.de editorial lebensmittel-pressefreiheit-2954.html _blank>Kontext Nummer 220, wie es sein wird, wenn nicht mehr ist, "was wir gewollt haben". Der damit verbundene Appell stützt sich auf die Unterstellung, dass ausreichend viele Menschen zwei Qualitätszeitungen wollen. Morgen für Morgen, sieben Tag die Woche, ist das in Institutionen wie dem Herbert'z, einem Café im Stuttgarter Heusteigviertel, zu beobachten: Dutzende Gäste greifen zu den Exemplaren von StZ und StN: Widerstandsnester gegen den Zeitgeist, wie das kleine Dorf im nördlichen Gallien.

Observiert werden LeserInnen, um eines der zu wenigen Exemplare zu ergattern. Natürlich gibt es Vorlieben für "Nachrichten" oder "Zeitung", zur Not ist aber auch die jeweils andere willkommen, weil alles besser ist als gar keine. Natürlich ist hier die neuerliche Fusion ein Thema – in der Generation Ü 50. Und natürlich rauschen Jüngere mit Kopfhörern in den Ohren und der Latte-to-go daran vorbei. Oder umgekehrt: die Diskussion über die gefährdete Pressevielfalt an ihnen.

Seit Ende der Achtzigerjahre wird die Situation in Stuttgart in ebenjenen erwähnten zahlreichen Arbeiten eher lobend hervorgehoben, weil keine andere Landeshauptstadt in der Republik, von der Sondersituation in München abgesehen, mit zwei vorzeigbaren Blättern aufwarten kann.

Spagat zwischen Nachricht und Reportage

Anno 2004 waren bereits 299 von insgesamt 443 Stadt und Landkreisen in Deutschland nur noch durch eine einzige Regionalzeitung versorgt. Die beiden Stuttgarter brachten es damals auf eine verkaufte Auflage von zusammen knapp 200 000 Exemplaren, heute sind es gut 180 000. Das Minus von neun Prozent liegt nach den Zahlen des Verlegerverbands übrigens unter dem bundesweiten Durchschnitt.

Der Abwärtstrend ist dennoch ein stetiger, aus vielen Gründen und nicht zuletzt auch deshalb, weil viel zu wenige potenzielle Käufer und Käuferinnen bewusst gegensteuern. Epidemisch grassiert die kühne Vorstellung, Internet und soziale Medien könnten in Sachen gesellschaftlicher Identitätsstiftung Ähnliches leisten wie die Tageszeitungen. Zukunftsforscher sagen dennoch voraus, dass spätestens Mitte des Jahrhunderts gar keine gedruckten Produkte mehr erscheinen in Deutschland, wenn sich der Trend fortsetzt.

Die Konzernherren auf den Fildern nehmen für sich in Anspruch, genau dem entgegenzuwirken. Und niemand, der die beiden Blätter und die sterbende "Sonntag aktuell" regelmäßig und aufmerksam liest, wird fehlenden Willen zur Veränderung attestieren. Sogar die so lange ziemlich altbacken dahergekommene "Stuttgarter Zeitung" hat sich bewegt, nicht nur grafisch.

Sie versucht den Spagat zwischen mundgerecht aufbereiteten Nachrichten und den tagesschriftstellerischen Reportagen über Bekannte(s) und Unbekannte(s) aus dem Land. Und die Experimentierfreude der "Nachrichten" ist derart ausgeprägt, dass sie eine Annäherung an den Boulevard nicht scheut und mit immer mehr lokalen und regionalen Aufmachern auf Seite eins klassische Lesererwartungen konsequent verstört. Damals, als beim Lesen die Hände noch schwarz wurden von der Druckerschwärze, wären sie damit Thema nicht nur in den kleinen gallischen Dörfern gewesen.

Für manche S-21-Gegner liegen entscheidende Gründe der Krise unten im Talkessel. Unstrittig positionierten sich beide Zeitungen im Lager der Stuttgart-21-Befürworter. Über Jahre kamen dementsprechend die Gegner (viel zu) selten zu Wort. Spätestens seit der so symbolischen wie lächerlichen Prellbock-Versetzung 2010 sind aber Hunderte kritische Artikel oder Kommentare erschienen. Nicht von ungefähr hatten beide Blätter mit Abbestellungen aus den Reihen der Befürworter zu kämpfen. 

Ohnehin spielen aber regionale Aufregerthemen, und wenn ihre Strahlkraft noch so groß ist, nur eine Nebenrolle für die Abwärtsbewegung der Tagespresse. Die Probleme sind struktureller Natur, und sie reichen tief. 

Von den heute 40- bis 49-Jährigen wollte schon vor zwei Jahrzehnten nicht einmal mehr jeder zweite regelmäßig zur Zeitung greifen. Heute liest sie nur noch jeder fünfte junge Erwachsene. Trotz aller redaktionellen Anstrengungen, immer neue Jahrgänge anzulocken, stirbt die Leserschaft langsam, aber sicher aus – mit weitreichenden Konsequenzen.

Denn untersucht ist auch, wie sehr dieses Desinteresse mit einer wachsenden Gleichgültigkeit am politischen Geschehen insgesamt einhergeht. "Die Tagespresse ist Bindeglied zur politischen Teilhabe", schreiben EU-Fachleute in einem der regelmäßigen Eurobarometer zur Mediennutzung. Was sich in jungen Demokratien besonders zeige, weil dort "der Hunger nach Information" groß sei. 

Im EU-Schnitt ist die Tageszeitung zur Informationsbeschaffung nur noch für 26 Prozent der Bevölkerung von Wert. Auch dies ein Abwärtstrend, der stetig und immer parallel zu jenen Linien verläuft, die Wahlbeteiligung und allgemeines Interesse an Politik dokumentieren. 

Wer das Abo abbestellt hat, kommt nicht zurück

Zu den Bedrohungen von außen gesellen sich interne Versäumnisse. "Werden die deutschen regionalen Tageszeitungen dieser Vielfalt der Familienkulturen, Lebensentwürfe von Paaren ohne Kinder und Lebensgestaltungen Alleinlebender in ihrer Berichterstattung gerecht?", fragt Andreas Vogel für die medienpolitische Abteilung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und weiter: "Haben die Redaktionen in den letzten zwanzig Jahren die Veränderungen der Alltagswelten der Bevölkerung in Deutschland hinreichend begleitet? Wer dies eher verneint, der hat bereits ein erstes relevantes Erklärungspotenzial für die seit Jahrzehnten sinkenden Tagespresse-Auflagen gefunden." 

Gerade der Stuttgarter Konzern hat während der Finanzkrise zwischen 2007 und 2011 Einbrüche hinnehmen müssen wie wenige vergleichbare Verlage in der Republik. Und wer das Abo einmal abbestellt hat, kommt nicht mehr zurück. Selbst nach Meinung des Zeitungsverlegerverbands hat das auch mit der Preisentwicklung zu tun. Beim Statistischem Bundesamt ist der Verbraucherpreisindex zwischen 1991 und 2013 um gut 150 Prozent gestiegen, die Zeitungspreise im Einzelverkauf aber um durchschnittlich hundert Prozentpunkte mehr. 

Zudem hat das Internet nicht nur weitreichenden Einfluss auf die redaktionelle Arbeit, es hat auch das Anzeigengeschäft als Einnahmequelle kannibalisiert, weil Online-Angebote längst wesentlich attraktiver sind als der Blick auf gedruckte Inserate. Medienhistoriker wissen allerdings, dass die ohnehin erst sehr spät zur tragenden Säule der Finanzierung wurden. Renommierte Blätter waren früher in Parteihand, hohe Auflagen vor allem in der Zwischenkriegszeit eine Selbstverständlichkeit in Berlin, in Wien, sogar in Stuttgart mit der sozialdemokratischen "Schwäbischen Tagwacht". Oder es engagierten sich doch Goliaths, wie einst Robert Bosch, der das "Stuttgarter Neue Tagblatt" kaufte, um einen Rechtsruck zu verhindern.

Andere Produkte schließen sich zusammen, wie gerade Springers "Welt", der eher rechte französische "Figaro" und die eher linke spanische Tageszeitung "El País", in der Hoffnung auf Synergien im Netz und in der aktuellen Berichterstattung, etwa zum Megathema Flüchtlinge – über alle ideologischen Unterschiede hinweg. Oder Mischformen behaupten sich, wie die 1703 gegründete "Wiener Zeitung", die älteste ihrer Art weltweit, die – vor Erfindung des Internets – zugleich offizielles Veröffentlichungsorgan der Republik Österreich war und heute parallel zum Tageszeitungsgeschäft Portale im Auftrag der öffentlichen Hand betreibt, etwa zu Fragen des Konsumentenschutzes.

Stichwort öffentliche Hand: Der Fiskus im In- und Ausland begünstigt Zeitungen, denn überall profitieren Presseerzeugnisse beispielsweise von abgesenkten Steuersätzen. Das erklärte Ziel: Meinungsvielfalt erhalten. Allerdings wurden und werden solche Nachlässe oft einfach auch nur zur Renditeerhöhung eingesteckt.

Alles eine Frage von Kontrolle und Ausgestaltung, sagen die Schweden, die besonders aktiv subventionieren. Gebunden an Auflagen und Nutzerzahlen werden Internetauftritte und Zeitungen finanziell gefördert, um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten. Die Brüsseler Hüter desselben hat das Thema Subventionen schon lange auf den Plan gerufen. Bis 2017 müssen Reformvorschläge auf den Tisch. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, denn viele Verlage sind trotz staatlicher Gelder in Schieflage.

In Südschweden gingen 40 Prozent der Redakteursstellen in nur drei Jahren verloren. Und das, sagt Ministerpräsident Stefan Löfven, sei erst der Anfang einer Entwicklung, wenn jetzt die viel beschriebene "Presstöd" fällt. Wer sich in Europa und "gerade in Deutschland mit seiner rein privatwirtschaftlich organisierten Presselandschaft" informiere, der sehe die Auswirkungen der Ressourcenverschiebung. Die Zeitungen würden nicht besser, sondern dünner und die Redaktionen bei ausgeweitetem Online-Angebot kleiner. 

Der Sozialdemokrat warnt vor den Folgen dieses Prozesses für "politisches Interesse, die Bereitschaft zur Beteiligung und die Funktionsfähigkeit des demokratischen System insgesamt". Und er kann auf die hohe Wahlbeteiligung seiner Landsleute – ohne Wahlpflicht – von stabil 85 Prozent verweisen. Noch.

***

Wir fordern Pressevielfalt (Ausgabe 219)

Geschäftsführer Richard Rebmann kündigte jüngts den Betriebsratsvorsitzenden von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" die Fusion der beiden Redaktionen und den Wegfall von 35 Stellen an. Wir von Kontext fordern: Keine Zusammenlegung der beiden Stuttgarter Blätter. Unsere Initiative für Pressevielfalt und wer schon unterschrieben hat, lesen Sie hier: <link http: www.kontextwochenzeitung.de medien wir-fordern-pressevielfalt-2943.html _blank>Zur Aktion


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11 Kommentare verfügbar

  • Peter S.
    am 25.06.2015
    Antworten
    Auch ein Grund für Auflagenschwund. Vermutlich fragen sich die Bürger: Warum soll ich Geld ausgeben für etwas dem ich immer weniger vertraue?

    http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-06/medienkritik-journalismus-vertrauen

    "Deutsche haben wenig Vertrauen in die Medien
    Fehlinformation,…
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