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"Außer Reden nichts gewesen?"

"Außer Reden nichts gewesen?"
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Alle reden von Bürgerbeiligung. Peter Grottian kritisiert die grüne Praxis und zitiert Hannah Arendt. Gisela Erler verteidigt und zitiert Jürgen Habermas. Unsere Autorin fragt in die illustre Runde: Welche politischen Konzepte liegen der Praxis der Bürgerbeteiligung eigentlich zugrunde?

Peter Grottian ist enttäuscht. Winfried Kretschmann habe die Ankündigung, eine "Demokratie des Gehörtwerdens" in Baden-Württemberg zu etablieren, nicht wirklich in die Tat umgesetzt, so sein Statement in Kontext. Auch die eingesetzte Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, habe mit "der Politik des wirklichen Gehörtwerdens sehr wenig am Hut".

Die wiederum beteuert in ihrer Replik den richtigen Weg der Landesregierung und sieht die Beteiligungspolitik der Grünen, Karl Marx zitierend, als einen "qualitativen Sprung in der Entwicklung". Dies erklärte Erler vor wenigen Tagen auch bei einer Veranstaltung des Neuen Montagskreises von Peter Conradi und Petra Bewer im Stuttgarter Theaterhaus. Dabei versteht die Staatsrätin die Grünen nebenbei recht originell als Vollender des Marxismus.

Aber was ist mit den viel beschworenen Bürgerinnen und Bürger? Die sind, nach Grottian, in Gestalt der Stuttgart-21-Protestierenden mit trauern und Wunden lecken beschäftigt, anstatt sich etwa in Konventen zusammenschließen. Oder, nach Erlers Auffassung, zwar erfolgreich in vielerlei Beteiligungsverfahren eingebunden, sollen sich aber noch daran gewöhnen, dass sie nicht wirklich etwas zu entscheiden haben. Es scheint eine Ironie der Geschichte, dass sowohl Peter Grottian als auch Gisela Erler in der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung politisiert wurden, die ihren Erfolg nicht zuletzt der Tatsache verdankt, dass sie eben nicht nur mitreden, sondern mitentscheiden wollte.

Die in den 1960er- und 1970er-Jahren politisch aktiven jungen Leute waren nicht zimperlich, was ihre politischen Forderungen anging. Wollten sie doch nicht weniger als eine Revolution, den Sozialismus oder zumindest Partei sein in einem internationalen Klassenkampf.

Dabei haben beide, Peter Grottian und Gisela Erler, ihre grauen Eminenzen im Hintergrund, um die Bedeutung der eigenen Ausführungen zu unterstreichen. Denker mit klingenden Namen, nämlich Hannah Arendt und Jürgen Habermas. Nun sind die Zeiten, da man sich vermeintlich richtige oder falsche Zitate bedeutender Theoretiker um die Ohren schlug und die Darstellung der eigenen Welterklärung mit exegetischer Passion pflegte, zum Glück vorbei. Doch es lohnt ein Blick auf jene politischen Konzeptionen, die der politischen Praxis "Bürgerbeteiligung" zugrunde liegen sollen, zeigen sich doch exemplarisch, wie notwendig eine fundierte politisch-theoretische Debatte ist. In einem "Stuttgarter Leitmedium" – wie Kontext von Erler genannt wurde – ist genau der richtige Platz dafür.

Gehörtwerden ist kein Novum politischer Kultur

So meint Peter Grottian: "Kretschmann hat sich theoretisch und politisch von Hannah Arendt inspirieren lassen, die das Gehörtwerden in den Mittelpunkt einer lebendigen, direkten Demokratie rückte." Zunächst fragt sich, warum Grottian die Phrase von der "Demokratie des Gehörtwerdens" nicht wenigstens in Anführungszeichen setzt. Warum greift er sie offenbar affirmativ auf, gerade so, als wäre hier etwas Neues erfunden worden? Als sei Emanzipation durch die Proklamation eines Ministerpräsidenten endlich möglich?

"Die Griechen haben die Demokratie entdeckt, und sie haben sie entdeckt, weil sie Politik als eine Form des Miteinander-Redens und Miteinander-Handelns verstanden", schreibt der Philosoph und Politologe Henning Ottmann. Es gibt folglich keine Demokratie, ohne dass die Beteiligten gehört werden. Dies ist allerdings ein wechselseitiger Prozess. Er gilt für Beschlussfassende und Beratende, Regierende und Regierte gleichermaßen. Denn auch das ist ein zentraler Grundsatz demokratischen Handelns: die gleiche Berechtigung und gleiche Wertigkeit aller Bürger.

Wenn allerdings die Gleichheit nun darin bestehen soll, dass die einen – endlich – zuhören und die anderen sprechen, dann ist keine wirkliche Gleichheit hergestellt. Dann fällt dies hinter ein emanzipatorisches Demokratieverständnis zurück. Es gibt also keinen Grund, die Ankündigung einer "Demokratie des Gehörtwerdens" als Novum einer politischen Kultur zu feiern. Im Gegenteil: Zuhören ist eine Voraussetzung für demokratisches Handeln überhaupt. Die Tatsache, dass sie gefordert wird, verweist viel mehr auf die Defizite der demokratischen Wirklichkeit.

Während sich diese Bewegungen mit Mitsprache nicht zufriedengaben und deshalb Barrikaden bauten, Parteien gründeten oder Lehrstühle besetzten, wird heute an Regierungen appelliert oder die Bürgerinnen und Bürger zum bloßen Mitreden aufgefordert.

Ebenso verwunderlich stimmt Grottians Verweis auf Hannah Arendt. In ihren Texten ist an keiner Stelle die Rede von einer "Demokratie des Gehörtwerdens". Von Demokratie spricht sie selten, vielmehr von Politik. Und die ist, nach Arendt, etwas, das vom Tun der Bürger ausgeht, nicht von staatlichen Strukturen oder Parteien. Das "inhärente Versprechen" der Politik sei, "dass die Menschen die Welt verändern können". Grundlegend dafür ist die historische Erfahrung, dass "die Bürger in ihr Zusammenleben nicht den Begriff der Herrschaft eingeführt hatten, [...] es also eine Scheidung in Herrscher und Beherrschte nicht gab". Das Prinzip der Politik beinhaltet eine gleiche Berechtigung aller Handelnden. Von einer "Demokratie des Gehörtwerdens" braucht man da nicht zu sprechen, denn das Verhältnis gegenseitiger Anerkennung als Gleichberechtigte und Gleichwertige ist ja gerade die Grundlage des Politischen.

Räte bedeuten ein Höchstmaß an politischer Beteiligung

Dessen Aktualität zeigt sich nach Arendt "immer und überall, wo Menschen in Freiheit, ohne Herrschaft und Knechtschaft miteinander leben", und es verschwindet, sobald das Handeln aufhört und von einem "Sichverhalten und Verwalten abgelöst wird". Eine Vorstellung, die sich nicht wirklich auf Parteipolitik oder verwaltete Bürgerbeteiligung übertragen lässt. Auf der Suche nach solchen Zusammenschlüssen, die ein Höchstmaß an Beteiligung vieler Personen ermöglicht, entdeckt Arendt übrigens die Räte und fällt nebenbei ein hartes Urteil über Parteien. Denn Parteien können zwar repräsentieren, aber weder kann Handeln delegiert werden noch Meinungsbildung. "Im Grunde haben die Parteien von rechts bis links sehr viel mehr miteinander gemein, als auch die revolutionärste von ihnen je mit den Räten gemein hatte", meint Arendt. 

Auch Jürgen Habermas hat Hannah Arendt gelesen, gibt sich aber versöhnlicher, was mögliche Formen demokratischer Politik angeht. Er entwickelte Anfang der 1990er-Jahre, inspiriert vom US-amerikanischen Politikprofessor Joseph Bessette, das Konzept einer deliberativen Demokratie weiter. "Deliberare" heißt so viel wie "erwägen", "mit sich zu Rate gehen", "sich mit anderen beraten" und geht zurück auf die klassische Rhetorik des Aristoteles.

Versucht wird eine Verbindung zwischen politisch-administrativen Institutionen und den Diskussionen einer kritischen Öffentlichkeit. Die deliberative Demokratie versucht, den Anspruch, dass demokratische Politik auf das Miteinander-Reden gegründet ist, erneut zur Geltung zu bringen. Entscheidungen sollen aus der Diskussion hervorgehen. Der Gegenbegriff des Deliberare ist der des Agere, des Handelns. Demnach deliberiert das Parlament, während die Exekutive agiert.

Nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden

Habermas entwickelt die Idee einer umfassenden Deliberation, die sich in spontanen Prozessen außerhalb der Parlamente vollzieht. Diese Prozesse sieht er anfänglich handlungsentlastet, was Ottman zu der kritischen Bemerkung veranlasst: "Dadurch entsteht die Frage, wie verbindlich solche Deliberationen sind. Soll man sagen: außer Reden nichts gewesen?" Allerdings folgert Habermas im Jahr 2007: "demokratische Legitimität kann nicht nur durch Deliberation und Öffentlichkeit allein hergestellt werden, sondern erfordert die Kombination vernünftiger Kommunikation mit der Teilnahme aller potenziell Betroffenen am Entscheidungsprozess." Diese Perspektive taucht bei Gisela Erler nicht auf. 

Gisela Erler fordert die Zivilgesellschaft, die kritische Öffentlichkeit heute unter Berufung auf Habermas dazu auf, doch bitte nur mitzusprechen, das Entscheiden aber den Berufspolitikern zu überlassen. Zugleich repräsentiert sie eine politische Partei, die gerade auch deshalb entstanden ist, weil große Teile einer Generation, entsprechend dem Arendt'schen Politikverständniss, mitentscheiden wollten. Hätte es derlei Aktivitäten sozialer Bewegungen nicht gegeben, die den Anspruch auf Mitentscheidung deutlich vertraten, dann gäbe es heute weder Wahlrecht noch Frauenwahlrecht, noch Sozialversicherungen oder Gewerkschaften. Ja, es gäbe nicht einmal Parteien, die entstanden sind, weil Menschen über die Konturen einer anderen Gesellschaft mitentscheiden wollten.

 

Annette Ohme-Reinicke ist Soziologin und Lehrbeauftragte am Philosphischen Institut der Universität Stuttgart.


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25 Kommentare verfügbar

  • rosegrobeis
    am 28.06.2015
    Antworten
    Ich finde, dass da ziemlich viel durcheinander gerät. Wenn man/frau sich auf Hannah Arendt bezieht, dann hat das doch erst einmal nichts mit Gehörtwerden zu tun ... Hannah Arendt fasst das Politische doch so, dass die Bürger untereinander sich verständigen, d.h. mit einander diskutieren/sprechen…
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