Einen gewaltigen Vorteil hat dabei, wer das Problem definiert, über das geredet werden soll. So auch während des "Schlichtungsverfahrens" um Stuttgart 21. Mit diesem und anderen Phänomenen der Integration sozialer Bewegungen beschäftigt sich das gerade erschienene Buch "Strategische Einbindung", herausgegeben von Michael Wilk und Bernd Sahler. Einen Vorgeschmack auf das Buch gibt der folgende Text von der Soziologin und Kontext-Gastautorin Annette Ohme-Reinicke:
Wie Sachverhalte zu Fakten werden
Am 22. Oktober 2010 leitete Heiner Geißler das erste Schlichtungsgespräch mit folgenden Worten ein: "Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beginnen jetzt mit der Schlichtung Stuttgart 21. [...] Es ist klar, worum es sich handelt." (Stenografisches Protokoll, S. 1. Im Folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl zitiert. Alle Hervorhebungen in diesem und den weiteren Zitaten von uns). Nämlich um die Beurteilung der "Leistungsfähigkeit des Bahnknotens Stuttgart 21" – so der Titel des Schlichtungsverfahrens. "Klar" war jetzt allerdings vor allem, dass Geißler mit diesen beiden Behauptungen die Schwerpunkte für die "Schlichtung" gesetzt hatte – und beide Behauptungen waren schlichtweg falsch. Denn weder für die protestierende Bürgerbewegung noch für das Bundesverkehrsministerium war die Frage nach der Leistungsfähigkeit eines Tiefbahnhofs im Vergleich zu einem Kopfbahnhof der ausschlaggebende Anlass für einen Streit um Stuttgart 21.
Geißler reduzierte den Konflikt auf die Leistungsfähigkeit
Denn während Geißler den Konflikt um Stuttgart 21 inhaltlich auf die Frage nach der technischen "Leistungsfähigkeit eines Bahnknotens" reduzierte, heißt es etwa in einem Brief aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung von Wolfgang Tiefensee vom 13. 12. 2006: "Bei Stuttgart 21 handelt es sich nicht um ein Projekt des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege, sondern vorrangig um ein städtebauliches Projekt. Denn auch ein oberirdischer Kopfbahnhof kann die verkehrlichen Funktionen für den Eisenbahnknoten Stuttgart erfüllen." (zit. nach Roser 2010: 142) Auch die Bahn selbst hatte 1983 festgestellt: "Stuttgart ist hervorragend in das Intercity-Netz der Bundesbahn und damit in das europäische Eisenbahnnetz eingebunden." (zit. nach Roser 2010: 140)
Entgegen den von Geißler behaupteten "klaren" Gründen des Konflikts hatten die Bürger andere Motive für ihren Protest. Diese Motive drückte etwa der ehemalige Oberbürgermeister Manfred Rommel 1987 aus: "Ich freue mich, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof seit nunmehr 65 Jahren ein markantes Wahrzeichen unserer Stadt ist. Die Bürger Stuttgarts sind stolz auf dieses Bauwerk. [...] Für den Stuttgarter ist der Bahnhofsturm, wie überhaupt der Bahnhof, ein Gegenstand des Stolzes und eine Quelle der Überzeugung, dass man dort irgendwie mit der großen Welt verbunden sei, ja vielleicht zur großen Welt gehöre." (Rommel, zit. nach Roser 2010: 141) Der Architekturhistoriker Helmut Gebhard ergänzt: "Der Neubau stellt einen der wenigen Bauten des 20. Jahrhunderts dar, die zum neuen Wahrzeichen einer Großstadt wurden, da seine Architektur in gleicher Weise den Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten entgegenkommt, wie auch der kritischen Beurteilung der Fachleute standhält." (zit. nach Roser 2010: 140). Auch Joe Bauer betont immer wieder die Identität stiftende Bedeutung des Bahnhofs für die Stuttgarter Stadtbevölkerung: "Zum Bahnhof bin ich sonntags zu Fuß geschlichen oder mit dem Taxi gefahren, wenn der Kühlschrank leer war. Zum Bahnhof ging ich, wenn ich kein Buch für die Nacht hatte und kein Geschenk für eine Dame. Am Bahnsteig habe ich etwas über Ankunft und Abschied gelernt, über Liebe und Verlust. Und manchmal hat einer vergeblich gewartet, am toten Gleis. Der Bahnhof mit seinem Ramschmarkt, seinem Schmuddel und seiner Offerte, eines Sonntags das Leben mithilfe der Artikel aus dem Drogeriemarkt neu zu starten, ist eine Stätte der Besinnung. Eine Kirche. Der Bahnhof erzählt Geschichten, er lebt." An all das hätten die Politiker nicht gedacht, "als sie entschieden, den Bahnhof zu kastrieren, ihm die Flügel abzuhacken".
Politiker haben Symbole und Gefühle vollständig ausgeblendet
Tatsächlich haben die Politiker in Stadt, Land und Bund sowie die Deutsche Bahn AG derlei Gebrauchsdimensionen und die damit zusammenhängenden Symbole und Gefühle vollständig ausgeblendet. Deshalb wurden sie von den Protesten nicht nur völlig überrascht, sondern sie konnten auch Motivationen und Gründe der Proteste überhaupt nicht begreifen. "Ich verstehe nicht, warum sich das alles an einem Bahnhof entzündet", so Mappus – und nicht an den vielen anderen problematischen Entscheidungen der Landesregierung, möchte man ergänzen.
Hätte die Bürgerbewegung das Thema der Schlichtung bestimmt, dann wären sicherlich die Veränderungen und Beeinträchtigungen der Lebensformen und Lebensqualitäten sowie die städtebaulichen Aspekte in den Mittelpunkt des zu verhandelnden Konflikts gerückt, während die Leistungsfähigkeit des Bahnhofs einer von mehreren Punkten geworden wäre. Aber die städtebaulichen Seiten des Projekts Stuttgart 21 tauchten in der Schlichtung nur am Rande auf, Fragen nach städtischen Lebensformen und Lebensqualitäten wurden gar nicht gestellt.
Anders als Geißler unterstellte, gibt es jedoch keine "Fakten", die irgendwo in der Welt herumliegen. Ein Sachverhalt wird nur innerhalb einer bestimmten Rahmung, in einem Kontext, zu einem Faktum. Genau diese Rahmungen aber – und dies kennzeichnet die "Schlichtungsgespräche" und Mediationsverfahren insgesamt – stehen nicht zur Diskussion und zur Disposition. Vielmehr werden sie über die Verfahrensseite, von den Organisatoren der Gespräche, als gegeben imaginiert. Gegeben sind dann ebenfalls sogenannte Fachleute und Experten. Deren Aufgabe es ist, die anstehenden "Fakten" zu benennen, zu definieren und zu gewichten. Auf diese Weise wird die Entscheidung vorstrukturiert, die anschließend von den Bürgern hinzunehmen ist. Die Bürger müssen den Expertengesprächen zuhören, ohne mitdiskutieren zu dürfen, und werden zu bloßen Laien degradiert.
Auf eine solche "Sach- und Fachschlichtung" schwor Geißler in seinem kurzen Eröffnungsstatement alle an der Mediation zum Sprechen berechtigten Teilnehmer ein. Es gehe um eine "Versachlichung der Auseinandersetzung". (S. 1) "Wir machen hier den Versuch einer Fach- und Sachschlichtung. Man kann auch sagen (...), dass wir einen Faktencheck machen. (...) Wir werden also alle Fakten auf den Tisch legen. Alle an den Tisch. Alles auf den Tisch. Wir werden dann versuchen, zu einer gemeinsamen Bewertung dieser Fakten zu kommen. (...) Die Bürgerinitiative hat sich zu diesem Gespräch bereit erklärt mit der Absicht, zur Sache zu argumentieren. (...) Dadurch, dass Sie mit am Tisch sitzen, zeigen Sie, dass Sie eine fachliche Auseinandersetzung für richtig halten. (...) Wir wollen hier keine Predigten und keine Glaubensbekenntnisse hören. Wir veranstalten auch kein historisches Seminar, in dem man sagt: Herr Kretschmann hat vor anderthalb Jahren dies gesagt. Der Ministerpräsident hat vor einem halben Jahr jenes gesagt. – Würden wir uns darauf einlassen, wäre diese Schlichtung zum Scheitern verurteilt. Hier geht es um die Sache und darum, wie es in der Gegenwart aussieht und wie es in der Zukunft aussehen soll." (alle Zitate S. 2–3)
Woher weiß man, ob alle Fakten auf dem Tisch sind?
Es gehe um "Sachen" und "Fakten". Um diese thematisieren und bewerten zu können, müsse sich jeder rein rational, unparteilich und neutral verhalten. Dafür seien "Informationen" von "Experten" erforderlich, die per definitionem diese Form der Rationalität verkörpern. Woher aber wissen der Moderator, die Vertreter der Konfliktparteien und woher wissen vor allem die Zuhörer, dass wirklich alle "Fakten" auf den Tisch gelegt worden sind? Das können sie prinzipiell nicht wissen, sondern alle müssen wechselseitig unterstellen, dass die jeweils andere Partei aufrichtig ist und dass die Experten wirklich unparteilich wie von einem überweltlich-neutralen, fast göttlichen Standpunkt aus argumentieren. Wenn aber an der Aufrichtigkeit Zweifel und vielleicht sogar begründete Zweifel bestehen? So zum Beispiel, weil in dem oben zitierten Brief aus dem Verkehrsministerium explizit gesagt wurde, dass der Tiefbahnhof keine Wirtschaftlichkeit aufweise – der gegenwärtige Bahnvorstand aber, ohne "neue Fakten" vorzulegen, genau dies behauptet? Genau solche Fragen hat Geißler als nicht zulässig erklärt – man mache doch schließlich kein "historisches Seminar". Wie aber sollten aus der unmittelbaren Gegenwart, der Jetztzeit der Mediation heraus Planungsentscheidungen und Finanzkalkulationen sachlich und fachlich beurteilt werden können, wenn diese selbst mehrere Jahre, sogar mehr als ein Jahrzehnt alt sind und die begründete Befürchtung besteht, sie seien überholt?
9 Kommentare verfügbar
Kornelia
am 12.06.2014"Bewegungen haben also ein Gedächtnis, das abrufbar ist?
2Ich denke schon, auch wenn nicht alle Aktivisten um die Vorgeschichte wissen. Wird heute über die Vorzüge des…