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Wacht auf!

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Zwei Wochen ist es her, dass mehr als die Hälfte aller Schweizer der Initiative "Gegen Masseneinwanderung" zustimmten. Theaterregisseur Volker Lösch beschrieb seine Fassungslosigkeit darüber im Schweizer "Tagesanzeiger". Und erntete dafür eine Menge böser Kommentare.

Liebe Neunundvierzigkommasiebenprozent! Nach dem desaströsen Wahlergebnis vom Wochenende, welches die nationalistischen Parteien am äußeren rechten Rand in ganz Europa gestärkt und beflügelt hat, habe ich, ein deutscher Regisseur, der fünf Jahre in Zürich gelebt hat und derzeit am Theater Basel inszeniert, Fragen an Euch.

Warum erhebt in diesem Land kein Prominenter aus Euren Reihen seine Stimme gegen die rassistischen und fremdenfeindlichen SVP-Parolen?

Wieso wird von Euch das Unwort "Masseneinwanderung" unwidersprochen als Diskussionsgrundlage akzeptiert?

Warum habt Ihr Eurer Bevölkerung nicht besser vermittelt, dass die Schweiz mit Dumpingsteuern anderen Staaten die Arbeitsplätze wegnimmt und somit zu den Migrationsbewegungen in Europa beiträgt – und dass es grotesk ist, deren angebliche Auswirkungen nun einseitig bekämpfen zu wollen?

Wieso stellt Ihr nicht die Freiheit des Kapitals in Frage, damit der zerstörerische europaweite Steuerwettbewerb eingeschränkt wird?

Warum wart Ihr in den letzten Wochen in der öffentlichen Diskussion, in Talkshows, in den Medien so wenig präsent?

Weshalb argumentiert Ihr so zaghaft und halbherzig, anstatt den rechten Polemikern mit besseren Argumenten lustvoll Paroli zu bieten? Warum habt ihr so wenig Spaß an konstruktivem Streit?

Warum habt Ihr euren Landsleuten nicht unmissverständlich klargemacht, dass die Schweiz ein aktives Einwanderungsland ist, dass Mobilität und Migration inzwischen Bestandteile des Lebens in allen europäischen Ländern sind und dass es schlicht unmöglich ist, Einwanderung zu fördern und sie gleichzeitig nicht anzuerkennen?

Warum räumt Ihr nicht mit diesem sinnfreien Gerede von Integration und Anpassung, diesem Geschwafel von Sitten, denen sich Gäste angeblich zu unterwerfen hätten, auf, um stattdessen klarzustellen, dass wir in Europa in einem gemeinsamen Kultur- und Denkraum leben, der das tolerante Einlassen aller auf alle einfordert?

Wieso habt Ihr Euch nicht entschieden gegen die populistische und nationalistische Wiedereinführung des Begriffes des Ethnischen gewandt, anhand dessen das Zusammenleben unserer Gesellschaften angeblich wieder organisiert werden soll?

Warum habt Ihr nicht angeprangert, dass ein Milliardär und Unternehmer Millionen von Franken an privatem Geld in die JA-Kampagne gepumpt hat?

Weshalb erzählt Ihr den Leuten nicht, dass es volle Züge, Busse und Straßen in jeder europäischen Stadt gibt und dass das nichts mit Einwanderung zu tun hat?

Wieso macht Ihr nicht immer wieder klar, dass die Themen Einwanderung, Arbeits- und Wohnungsmarkt und kulturelle Hegemonie vielfältig miteinander verwoben sind, dass die Welt komplizierter geworden ist und dass Probleme nicht durch einfache Schuldzuweisungen gelöst werden können?

Weshalb erzählt Ihr nicht die Wahrheit über uns Deutsche, dass nämlich die meisten von uns eingeladen worden sind, in die Schweiz zu kommen, sie also niemandem etwas wegnehmen, und dass die deutsche Einwanderung seit 2008 kontinuierlich zurückgeht?

Warum fallt Ihr immer wieder auf die Ästhetik der Gegenseite herein, bringt lustlose Broschüren im selben Layout heraus, und lasst fantasiefreie Plakate mit denselben Motiven drucken?

Warum besteht ihr nicht auf Euren legitimen Positionen zum Thema Einwanderung, anstatt kleinlaut Forderungen der Rechten in Eure Argumentationen aufzunehmen?

Weshalb vermittelt Ihr Euren Landsleuten nicht den Zusammenhang von Neoliberalismus und Abstiegsängsten, die dann zu Fremdenfeindlichkeit führen können? Warum überlasst Ihr diesen Diskurs kampflos den anderen?

Warum argumentiert Ihr mehrheitlich nicht humanistisch und solidarisch? Warum sind Menschenrechte in Euren Dikussionen kaum Thema gewesen? Und weshalb sind lediglich die erwarteten negativen EU-Reaktionen, wirtschaftliche Konsequenzen und Wohlstandsverluste Gründe für Euer "Nein" gewesen?

Wieso vermittelt Ihr Euren Landsleuten nicht, dass wir Europäer aufgrund unseres Wirtschaftens eine Mitschuld an der Verelendung von Millionen von Menschen haben und somit verpflichtet sind, solidarisch dafür Verantwortung zu übernehmen?

Liebe Neunundvierzigkommasiebenprozent: Ihr hättet es locker schaffen können. Mit ein wenig mehr persönlichem Engagement, Mut und politischem Gestaltungswillen hättet Ihr die Ängstlichen und Rückwärtsgewandten nicht nur besiegen, sondern Teile von ihnen sogar überzeugen können.

Wir Deutsche und Schweizer sind vergleichsweise sehr reich. Wir sprechen dieselbe Sprache, sind uns mentalitätsbedingt verwandt und wir haben sehr ähnliche politische Aufgaben zu lösen.

Und wir Neunundvierzigkommasiebenprozent – ich glaube nicht, dass in Deutschland eine ähnliche Abstimmung sehr viel anders ausgegangen wäre – dürfen da nicht passiv bleiben und hoffen, dass sich die Gegenseite schon nicht durchsetzt. Aussitzen reicht nicht mehr, wir müssen handeln.

Handlungsfähig sind wir aber nur, wenn wir eine Vorstellung von einer wünschbaren Zukunft haben. Also müssen wir die Dinge beim Namen nennen und für die Welt kämpfen, die wir für möglich halten.

Das Feld nicht den anderen überlassen. Uns einmischen.

 

Die Kommentierung der Schweizer Leser zu Volker Löschs Text im "Tagesanzeiger" ist ehrlich und kaum polemisch. Und gerade deshalb so erschreckend. "Lieber Herr Lösch, unser Boot ist voll", schreibt ein Kommentator. Mehr ist <link http: www.tagesanzeiger.ch kultur diverses wacht-auf story _blank>hier nachzulesen.

Volker Lösch inszerniert momentan am Theater Basel das Max Frisch-Schauspiel "Biedermann und Brandstifter" - nach Ansicht des Regisseurs und seines Teams eine "Angstfantasie von der von sogenannten Ausländern bedrohten Heimat". Von 2005 bis 2013 war er Hausregisseur am Staatstheater Stuttgart.



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12 Kommentare verfügbar

  • Karl Hässner
    am 28.02.2014
    Antworten
    Lösch veranstaltet dieses Ballyhoo auch als Riesenwerbung für die neue Lösch-Inszenierung in Basel und für das Theater Basel. "Biedermann und die Brandstifter" wird durchgehend ausverkauft sein.
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