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Der König weint

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König Wilhelm II. gilt als "Württembergs geliebter Herr". Bei der Verabschiedung seiner Truppen soll er sogar geweint haben. Erstaunlich, weil alle mit Hurra in den Ersten Weltkrieg gezogen sind. Ob die Tränen echt waren, ist unklar. Klar ist, dass auch der weinende Monarch keinen einzigen Soldatentod verhindert hat.

"Der König wusste um die Schrecken des Krieges. Er richtete nur wenige aufmunternde Worte an die Ausmarschierenden. Seine Stimme war brüchig. Tiefbewegt, vermochte er sich der Tränen nicht zu erwehren." So Paul Sauer, der ehemalige Leiter des Stadtarchivs Stuttgart, in seiner Biografie des Königs Wilhelm II. von Württemberg.

Die Tränen des Königs passen so ganz und gar nicht zur Kriegsbegeisterung des Sommers 1914. Sein Namens- und Nummernvetter in Berlin, Kaiser Wilhelm II., hätte natürlich niemals öffentlich geweint – schon gar nicht bei der Verabschiedung von Truppen. Auch für die rührende Szene des Württemberger Monarchen gibt es keinen offiziellen Beleg. So sind andere Kenner vorsichtiger. Seine Soldaten haben ihn "weinen sehen", heißt es oder – noch verhaltener – "bis heute erzählt man sich, es hätten Tränen in seinen Augen gestanden".

Es waren wirklich seine Soldaten. Neben dem übermächtigen Preußen besitzen nur die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg eine eigene Armee. Die Badener gehören zum preußischen Heer. Karlsruhe wird "Potsdam des Südens" genannt.

Der Sommer 1914 macht ganz Europa hysterisch

Seit am 28. Juni serbische Attentäter den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in Sarajevo erschossen haben, liegt Krieg in der Luft. Extrablätter, hektische Diplomatie, Treueschwüre in allen Hauptstädten Europas.

Zu den Gegnern des Krieges gehört die SPD, damals die größte Arbeiterpartei der Welt. Am 29. Juli werden in Stuttgart noch machtvolle Antikriegskundgebungen veranstaltet; Tausende Sozialdemokraten füllen die Säle der Brauereien Schwaben Bräu, Wulle und Dinkelacker. "Die Arbeiterklasse soll nicht zum Kanonenfutter der Herrschenden werden", heißt es. Wenige Tage später stimmt die SPD-Fraktion im Reichstag geschlossen für die Kriegskredite. Nun liest man in einer württembergischen SPD-Zeitung: "Wir haben ein Vaterland zu verteidigen und eine Kultur zu schützen."

In Stuttgart herrscht fiebrige Nervosität. Am Königsbau wird ein junger Mann verhaftet, "mit eindeutig slawischem Aussehen", er trägt eine schwere Tasche, es könnte Sprengstoff sein. In Ludwigsburg wird einer erschossen, weil er sich an ein Munitionsdepot "herangeschlichen" hat. In Mannheim werden französische Flieger durch Beschuss zur Landung gezwungen und festgenommen. Spione? Bomben? Oder gar beides?

Die Gegner Deutschlands in West und Ost: "Parfümierte Schlappschwänze" die Franzosen, "barbarische Kosakenhorden" die Russen. Besonders fies aber die "germanischen Vettern", die Briten, von Neid und Missgunst über das erfolgreiche Deutschland zerfressen. Krieger im Siegesrausch: "Ausflug nach Paris", "Wiedersehen auf dem Boulevard", "Auf in den Kampf, meine Säbelspitze juckt", so lauten Parolen auf den Waggons, die deutsche Soldaten an die Front bringen.

Notare wollen den letzten Soldatenwillen kostenlos beurkunden

Alle wollen irgendwie dabei sein: Rechtsanwälte und Notare bieten sich an, "den letzten Willen der Ausmarschierenden" kostenlos zu beurkunden. Der "Schwäbische Merkur" richtet einen Aufruf "an die Jungmädchen Stuttgarts: Auch unter euch, denen es nicht vergönnt ist, für die geliebte Heimat zu kämpfen, besteht ausnahmslos der Wille, die hohe Pflicht der Hilfe zu erfüllen." Die Jungmädchen sollen Socken stricken für die Soldaten, "Anleitung bei Frau Geheimrat Lichtenberger, Alexanderstr. 104." Und Wilhelm II. spricht zu seinem Volk: "Begeistert folgen auch wir Württemberger dem Rufe des Kaisers. Mehr als je leitet uns der heimatliche, so oft bewährte Wahlspruch: Furchtlos und treu!"

Es melden sich in wenigen Tagen so viele Kriegsfreiwillige, dass manche Rekrutierungsbüros vorzeitig geschlossen werden; so etwa bei den damals sehr angesehenen "Olga-Grenadieren". 

Eigentlich wollte der König alle Truppen, die "ins Feld" rücken, persönlich verabschieden. Dies ist aber organisatorisch und logistisch nicht möglich. Der Abschied mit König bleibt vor allem den Stuttgarter Truppenteilen vorbehalten, manchmal an zwei Terminen pro Tag. Vormittags Infanterie in der Bergkaserne in Stuttgart-Ost, nachmittags Dragoner in der Reiterkaserne in Bad Cannstatt.

Die wohl feierlichste Verabschiedung findet am Nachmittag des 6. August 1914 in der großen Infanteriekaserne an der Rotebühlstraße statt. Angetreten ist das Regiment Kaiser Friedrich Nr. 125. In dem Standardwerk "Die Württemberger im Weltkriege" wird dieser Auftritt von König und Königin ausführlich geschildert. Von den "wuchtigen Klängen des Präsentiermarsches" ist die Rede, vom Abschreiten der Reihen durch den König, "der jedem Soldaten noch einmal in die Augen sehen wollte", vom Handschlag für jeden Offizier – aber natürlich nicht von den Tränen, die seine Majestät vergossen hat. Von der brüchigen Stimme, mit der er seine "lieben Buben" angesprochen haben soll, liest man auch nichts.

Die "lieben Buben" lagen schon tot unter der Erde

1925, als dieses "Volksbuch" erschienen ist, hat man sich wohl geschämt für den weinenden König, der ja auch schon vier Jahre zuvor gestorben war. Auch keine Zeitung berichtet von den Emotionen des Landesherren, offizielle Dokumente sowieso nicht. So bleiben nur Augenzeugen als Beleg; in der eingangs erwähnten Biografie des vormaligen Stuttgarter Archivdirektors Paul Sauer werden die Erinnerungen von anwesenden Offizieren als Beleg genannt.

Aber die Tränen vom 6. August waren wohl nicht die letzten. In der Fernsehdokumentation "Weltkrieg und Revolution" (SDR, 1986) berichtet ein Kriegsfreiwilliger über den Abschied eines Ersatzbataillons des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 246 im Spätherbst 1914. Auch da hat der König – so der Augenzeuge – geweint. Wer mag ihm das verdenken, lagen doch allzu viele seiner "lieben Buben" vom August 1914 bereits tot unter der Erde. Das verabschiedete Regiment hatte innerhalb weniger Wochen 70 Prozent seiner Offiziere und Soldaten verloren.

Bis Weihnachten 1914, da sollte der Krieg ja schon vorüber sein, waren mehr als 13 000 Württemberger gefallen, die Verwundeten in den vielen Lazaretten nicht gezählt. Sie sterben in Ost und West, besonders aber in Belgien. Das Ziel: die flandrische Stadt Ypern einzunehmen, den Wettlauf zur Nordsee zu gewinnen.

Rücksichtslos sind die Kriegsfreiwilligen in dieser ersten Flandernschlacht im Hebst 1914 verheizt worden. Mangelhaft ausgebildet, miserabel ausgerüstet, manchmal von Offizieren geführt, die schon 1870 gegen die Franzosen gekämpft haben. Friendly Fire: Nicht selten trifft die Artillerie im flandrischen Nebel die eigenen Kameraden. Nach ihrer Blitzausbildung können die Kanoniere nur auf Sicht schießen, wie zu Napoleons Zeiten.

Wilhelm II. – vom Weichei zum Weitsichtigen

Innerhalb weniger Tage verliert die deutsche 4. Armee fast die Hälfte ihrer 120 000 Mann. Kommandeur ist ein Vetter des weinenden Königs, Generaloberst Herzog Albrecht von Württemberg. "School-Boy-Corps" spotten ihre Gegner, britische Eliteeinheiten. Der jüngste gefallene Württemberger ist noch keine 15 Jahre alt.

Selten genug wurden diese Kriegsverbrechen am eigenen Volk zur Sprache gebracht. Nach dem Krieg gelten die hohen Verluste der Württemberger gar als Zeichen besonderer Tapferkeit. So heißt es in dem bereits erwähnten Volksbuch: "Diese löwentapferen, opfervollen Angriffskämpfe der deutschen Jünglingskorps, zu denen auch die württembergische 54. Reservedivision gehörte, und in denen die deutschen Jungmannschaften mit dem Liede 'Deutschland, Deutschland über alles' auf den Lippen in den Tod gingen, gehören zu den ergreifendsten und ruhmvollsten Kriegshandlungen, nicht nur der deutschen, sondern der ganzen Weltgeschichte."

Ein armseliges Pleiteunternehmen, schon damals in Deutschland der "Kindermord von Ypern" genannt, sollte zu weltgeschichtlicher Bedeutung hochgeschrieben werden. Der Verfasser dieses protzenden Schwachsinns, Ex-General Otto von Moser, wird 1927 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen ausgezeichnet. Eine Schande, die bis heute nicht getilgt ist.

Und der König? Vierzehnmal besucht er seine Württemberger an der Front. Spendiert Freibier aus der Privatschatulle und Durchhalteparolen aus dem wilhelminischen Mainstream-Vokabular. Das Freibier haben ihm die Veteranen selbst 70 Jahre später nicht vergessen.

Immerhin: Als einziger deutscher Landesherr, neben dem ziemlich unbedeutenden Fürst von Meiningen, unterstützt Wilhelm II. die "Deutsche Friedens-Gesellschaft". Obwohl er selbst sicher kein Pazifist war, eher schon eine frühe Erscheinung des "Bürgers in Uniform". Zu sagen hatte er ohnehin nichts mehr: Deutschland ist während des Krieges praktisch eine Militärdiktatur.

So bleibt er gutmeinend, aber machtlos. Ein "Grüß Gott"- und "Ade"-Onkel, persönlich integer, aber doch ein Repräsentant des längst überlebten Systems. Seine Beförderung vom Weichei zum Weitsichtigen erfolgte öffentlich so richtig erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun schämte man sich nicht mehr der königlichen Tränen. Im Gegenteil: Sie passten nur zu gut zum väterlich-liberalen "Herrn König", der allein von seinen Hunden begleitet durch Stuttgart spazierte, eben "Württembergs geliebter Herr". Ein sympathisches Gegenbild zu den preußischen Komissknochen in Berlin, die Deutschland ins Unglück gestürzt haben.

Am Ende ist der weinende König ein wahrer Held der zivilen Gesellschaft geworden, und alle haben vergessen, dass seine Tränen keinen einzigen Soldatentod verhindern konnten.


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2 Kommentare verfügbar

  • Hartmann Ulrich
    am 06.02.2014
    Antworten
    Aha, wenn ein König geweint haben soll, will Herr Reschl einen "offiziellen Beleg" dafür, sonst gilt es nicht. Wie soll der aussehen? Eine Karte im Staatsarchiv: Königliche Tränenflüssigkeit, vergossen am 6.8.1914, mit Datumsstempel und Dienstsiegel?
    Selbst wenn man Wilhelm die brüchige Stimme und…
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