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Der Pillen-Kick

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Pillen einwerfen, damit das Studium besser flutscht. Chemie schlucken, damit das Lernen leichter fällt. Mit "Mother's Little Helper" leben Studierende und Kinder heute ganz selbstverständlich. Das Individuum passt sich der Leistungsgesellschaft an. Selbstoptimierung heißt die Devise. Die Folgen sind fatal.

Heute sei alles besser in den Kinder- und Jugendheimen. Es wird miteinander geredet, Konflikte werden besprochen, Probleme diskursiv angegangen. Das erfährt, wer heute mit jungen Erzieherinnen und Erziehern spricht. "Bambule", dieses Theaterstück, das Ulrike Meinhof in den 60er-Jahren schrieb, sei Geschichte. Darin wird der Aufstand junger Frauen in einem Mädchenheim geschildert, die rebellieren gegen drakonische Bestrafung, dass sie weggeschlossen und eingesperrt werden. Meinhofs Szenario bilde die Wirklichkeit nicht mehr ab, sagen die Erzieherinnen, und dann sagen sie etwas, das aufhorchen lässt: Außer dem pädagogischen "Miteinander-Reden" gäbe es da noch die vielen Medikamente. So sei es völlig selbstverständlich, dass ungefähr zwei Drittel der in Heimen untergebrachten Jugendlichen Medikamente bekämen: Medikinet, Saroquel, Apolan oder Ritalin.

Die würden sie beruhigen, Aggressionen und Konflikte dämpfen.

Es scheint, als seien die klappernden Schlüsselbunde, das Wegschließen und Einsperren zum Zweck der Disziplinierung von einst durch die Vergabe von Medikamenten ersetzt worden. Konfrontiert man die jungen Erzieher mit dieser Vermutung - die man selbst nicht so recht glauben will – so ist die Reaktion ein vehementes Nicken. Da drängt sich Michel Foucault auf. Der französische Philosoph stellt die Entwicklung verschiedener Formen der Disziplinierung historisch dar: Von der im Mittelalter öffentlich vollzogenen Vierteilung zur "sauberen" Form des Hinrichtens zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft mittels Guillotine, vom Pranger zur architektonisch eingefädelten gegenseitigen Überwachung in der Moderne.

Diese Wandlung vom außen- zum innengeleiteten Charakter der Massenproduktion und -konsumtion beschreibt der Soziologe David Riesman in "Die einsame Masse". Adorno und Horkheimer stellen einen "totalen Verblendungszusammenhang" der Kulturindustrie fest, der die vereinzelten Konsumenten einer allmächtigen technokratischen Verwaltung unterwerfe. Immer geht es um die Anpassung der Individuen an vorgegebene gesellschaftliche Muster, um die Unterwerfung unter bestimmte Erfordernisse des Marktes.

Optimiert in allen Lebensbereichen

Die aktuelle Form der Disziplinierung zeigt sich, so der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling, in der massenhaften Herausbildung eines "unternehmerisches Selbst". Dieser typische Sozialcharakter des Neoliberalismus ist ständig bestrebt, sich an die Erfordernisse des Marktes anzupassen, indem er sich selbst in allen Lebensbereichen zu optimieren versucht. Nicht seine Arbeitskraft verkauft er, sondern sich selbst. Er versteht sich als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft. Sein Leitbild: der Mensch als Unternehmer.

Das Ziel der vollständigen Optimierung seiner selbst kann er aber niemals erreichen und eben dies ist sein Zustand: Er ist "bewegt von dem Wunsch, kommunikativ anschlussfähig zu bleiben, und getrieben von der Angst, ohne diese Anpassungsleistung aus der sich über Marktmechanismen assoziierenden gesellschaftlichen Ordnung herauszufallen. Ein Subjekt im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend. (...) Unternehmerische Selbste fabriziert man nicht mit den Strategien des Überwachens und Strafens, sondern indem man die Selbststeuerungspotenziale aktiviert."

Das Hamsterrad niemals vollendeter Selbstoptimierung verlangt offenbar seinen Tribut. Längst unterwerfen sich gerade junge Menschen nicht mehr nur jenen autosuggestiven "Positiv-Denk-Techniken" aus Management-Handbüchern. Immer mehr greifen zur Chemie. Jeder fünfte Studierende in Deutschland nimmt leistungssteigernde Mittel. Dazu gehören Beta-Blocker gegen Herzrasen, Prozac, ein Antidepressivum, Modafini, eigentlich gegen Narkolepsie, Koffeintabletten und – Ritalin. So eine Studie der Uni Mainz vom Januar diesen Jahres. In den USA schluckt an einigen Universitäten jeder vierte Studierende illegal Ritalin oder Medikamente mit ähnlicher Wirkung. Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung nehmen dort regelmäßig Neuropusher. In den über 6000 Fitnesstudios Deutschlands dopen fast 23 Prozent der Männer, im Hobby-Sport jeder siebte mit Anabolika oder Wachstumshormonen.

Insbesondere Ritalin ist vor allem für Kinder und Jugendliche gedacht, bei denen ein "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom", ADHS, diagnostiziert wurde. Die Zahl der Verordnungen steigt rapide an: von 2006 bis 2011 bei unter 19-Jährigen um 42 Prozent. Im Jahr 2011 hatten angeblich 620 000 Kinder und Jugendliche ADHS. Während im Jahr 1993 34 Kilo Ritalin an Kinder vergeben wurden, waren es 2010 bereits 1760 Kilo, also mehr als das 50-fache. Der Pharmakonzern Novartis machte damit 2010 einen Umsatz von 464 Millionen Dollar. Etwa ein Viertel aller Männer und ein Zehntel aller Frauen sind im Laufe ihres Lebens mit der Diagnose ADHS konfrontiert, schreibt der Barmer Arztreport 2013. Vor allem Jungen vor dem Wechsel aus der Grundschule sind betroffen. Offenbar soll der Schulkarriere mit Pillen nachgeholfen werden.

ADHS: "Ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung"

Die Vermutung, dass es sich gerade bei ADHS nicht um eine Krankheit, sondern eine Behauptung handelt, stützt auch die Tatsache, dass rund um Würzburg statistisch über ein Drittel mehr ADHS-Kinder leben als im Rest der Republik, nämlich 19 Prozent im Verhältnis zu 12 Prozent. Hier ist vermutlich nicht die Krankheit Grund der Diagnose, sondern der Umstand, dass es in dieser Gegend besonders viele Kinder- und Jugendpsychiater gibt. Kein Wunder, dass eine zielgerichtete Verschreibung von Ritalin längst angezweifelt wird. 

Bereits im Jahr 2010 stellte eine Studie der Michigan State University in den USA fest, dass bis zur Hälfte aller ADHS-Diagnosen falsch sind. Selbst der wissenschaftliche Urheber der ADHS-Diagnose, Leon Eisenberg sagte, kurz bevor er starb, ADHS sei "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung". Auch in Deutschland sprechen Vertreter von Krankenkassen von "Schuldoping". Die Direktorin einer Kinderklinik der Berliner Charité, Ulrike Lehmkuhl, hält 90 Prozent der ADHS-Diagnosen für falsch. Bernd Sahling, ehemaliger Familientherapeut, nennt Ritalin eine "Folgsamkeitspille". Der Schwarzmarkt boomt.

Der Grund für den starken Konsum, gerade von Ritalin, liegt in einem gewachsenen Bedürfnis nach Selbstkontrolle, bei Schulkindern wie bei Erwachsenen. Diese Menschen wollen funktionieren. Sie wollen sich konzentrieren, können es aber nicht und fühlen sich ihrer eigenen Unfähigkeit zu Selbstkontrolle und -optimierung hilflos ausgeliefert. Während etwa der Student ständig aus dem Fenster schaut, weil ihn der Inhalt seiner Texte nicht wirklich interessiert, erlebt das sogenannte ADHS-Kind eine Aufgeregtheit und Aggression, die es sich selbst als fremd erfahren lassen. Vor allem, wenn die Medikamentierung nicht therapeutisch begleitet wird und das Kind deshalb den Sinn seines eigenen Handelns nicht verstehen kann.

Ritalin optimiert die Konzentration. Es hilft, sich zweckgerichtet zu fokussieren, verengt dabei allerdings den Blick. Für Studierende der Kunst und Musik ist es ungeeignet, denn Kreativität verarmt. Außerdem vermindert Ritalin die Spontaneität und reduziert die Empathiefähigkeit sowie den Wunsch nach Geselligkeit. Ein Zehnähriger fühlt sich unter dem Einfluss der Tabletten wie ein "Roboter", ein anderer wie ein "Zombie". Damit die Wirkung erhalten bleibt, muss die Dosis ständig erhöht werden.

Eltern stellen an ihren Kinder nach längerer Ritalin-Einnahme oft eine Veränderung der Persönlichkeit fest. Diesen Charakterwandel problematisiert auch der soeben in die Kinos gekommene Film "Kopfüber". Dem Protagonisten wird Ritalin verordnet, und nach einiger Zeit fragt ihn sein Freund: "Weißt du eigentlich, dass du nicht mehr lachen kannst?"

Zunehmender Ritalin-Konsum: Ergebnis herrschender Doppelmoral

Oft sind es aber gerade die Eltern, die ihren eigenen Leistungsdruck an die Kinder weitergeben. Eltern sind getrieben von der Furcht, dass ihre Kinder schulisch versagen, haben Angst vor Statusverlust oder Verarmung. Deshalb fordern sie die Kinder zu Anpassung an gesellschaftliche Erfolgsbedingungen auf. "Man hat den Eindruck, es mit Eltern zu tun zu haben, denen die schulischen Leistungen ihrer Kinder wichtiger sind, als deren Lebensfreude", so der Psychologe Rolf Haubl. Selbstverständlich ist es nicht in jedem Fall abzulehnen, psychische Krankheiten medikamentös zu behandeln. Doch die massenhaften Verordnungen, die Bereitschaft zur Anpassung und der längst blühende Schwarzmarkt für Neuropusher weisen darauf hin, dass es sich offenbar weniger um eine organische Erkrankung, als um das extreme Phänomen einer gesellschaftlichen Pathologie handelt. Gerade Ritalin manipuliert die organische und mentale Entwicklung der Kinder – allzu oft aufgrund falscher Diagnosen.

Der boomende Ritalin-Konsum ist auch Ergebnis der gegenwärtig herrschenden gesellschaftlichen Doppelmoral. Sie erzeugt Spannungen, die Erwachsene an Kinder weitergeben. Kinder wachsen auf in einer Konsumkultur, die zu Zerstreuung und Ablenkung auffordert, andererseits sollen sie sich aber konzentrieren. Dieser Zustand kommt einer widersprüchlichen Aufforderung gleich und bedeutet eine psychische Zerreißprobe. "Indem die Individuen ihre Wut, nicht zu genügen, allerdings ausschließlich gegen sich selbst richten, bestätigen sie wider Willen noch einmal jene Tyrannei der Selbstverantwortung, gegen die ihre leidende Psyche rebelliert", so Bröckling.

In dem Phänomen mangelnder Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, so Haubl, liege außerdem ein Symptom für die allgemeine Veränderung des dominierenden Sozialcharakters. "Man hat es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in einer Konsumgesellschaft aufwachsen, deren Ziel eine ständige Emotionalisierung im Dienste eines unstillbaren Begehrens ist." Den Kindern fehle es tatsächlich an "emotionaler Kompetenz".

Sowohl für Erwachsene als auch für Kinder scheint es heute keine Verbündete mehr zu geben. So zeigt sich in dieser Extremform der Zurichtung und Marktanpassung durch Medikamente, ein Sozialcharakter, der nicht nur davon ausgeht, dass ihm der andere Mensch ein Wolf ist. Der neue Sozialcharakter sieht vielmehr einen bestimmten, nämlich den "widerspenstigen" Teil seines eigenen Selbst als Bedrohung an. Er ist davon überzeugt, dass diese Widerspenstigkeit, der Widerwille, keine Grund hat und medikamentös behandelt werden muss – im Dienste der Selbstoptimierung. Wäre Ritalin früher erfunden worden, wäre die Welt ärmer: Tom Sawyer, Calamity Jane, Elias Canetti, Klaus Mann, Simone deBeauvoire und erst recht Georg Glaser - auf alle hätte wohl die Diagnose "oppositionelles Trotzverhalten von Kindern" aus dem weltweit gültigen "Diagnostischen Handbuch psychischer Störungen" zugetroffen und sie wären einfach wegmedikamentiert worden. Was für ein Verlust!


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8 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 26.11.2013
    Antworten
    @Pühchen, 22.11.2013 14:02 Diese Gesichtspunkte sind sehr wertig und zweifellos zu respektieren. Es stellt sich nur die Frage: WANN soll dann mit dem Ausstieg aus diesem selbstoptimierenden, auf-Teufel-komm-raus-die Kurve-kratzen wollenden Selbstoptimierungsprozess begonnen werden der sowohl bei an…
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