KONTEXT:Wochenzeitung
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Steine gegen das Vergessen

Steine gegen das Vergessen
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In rund 500 Orten in Deutschland und mehreren europäischen Ländern erinnern Stolpersteine an Verfolgte des Naziregimes. Fast täglich kommen neue Gedenksteine vor dem letzten Zuhause von Opfern hinzu. Im Stuttgarter Stadtbezirk Bad Cannstatt hat die örtlichen Initiative das 100. Mahnmal gesetzt. Gewidmet ist es Max und Hedwig Löwenthal, einer angesehenen Pferdehändlerfamilie aus dem einst mondänen Kurort. Die Löwenthals – diskriminiert, enteignet, deportiert, ermordet.

Am 26. Februar 1942 wurden 278 württembergische Bürgerinnen und Bürger auf dem Stuttgarter Killesberg versammelt und vom Nordbahnhof aus nach Izbica zwangsverschickt. Einziger Grund für diese widerliche wie widerrechtliche Aktion: Sie waren Juden. Niemand hat diese zweite Stuttgarter Deportation in das östlich von Lublin gelegene Durchgangslager überlebt. Wer nicht unterwegs oder gleich am Zielort starb, wurde in Belzec, Sobibor oder Treblinka vergast und spurlos vernichtet. Irgendwo dort sind auch die Spuren von Max und Hedwig Löwenthal erloschen. Aber nicht nur die Personen, auch fast alles, was an sie erinnern könnte, fiel dem Vernichtungswillen und der Raubgier ihrer Verfolger zum Opfer. So ist, wer etwas über diese beiden Cannstatter Bürger erfahren möchte, im Wesentlichen auf die Akten der Wiedergutmachung angewiesen, um die Marie Elicz, die der Shoa entkommene Tochter der Löwenthals, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gekämpft hat, nachdem sie, halb verhungert, endlich das Rumänien der Ceausescu-Diktatur hatte verlassen können.

Aus älteren Quellen lässt sich zumindest belegen, dass der Name Löwenthal in Cannstatt bekannt und angesehen war. Seit 1885 versprach im "Adress- und Geschäftshandbuch" der damaligen Oberamtsstadt eine ganzseitige Anzeige "reine Weine, vorzügliche Küche und freundliche, elegant eingerichtete Zimmer" im "Hotel Löwenthal". Unterzeichnet war das Inserat von S[imon] Löwenthal, Pferdehändler. Dieser hatte das 1872 errichtete Gebäude Werderstraße 4 (heute Frösnerstraße) 1880 um 50 000 Mark erworben und zum Hotel umgebaut.[2]

Die heute ungewöhnlich anmutende Kombination von Pferdehandel und Hotellerie scheint die Zeitgenossen nicht gestört zu haben. Es brauche nicht besonders betont zu werden, schreibt hierzu ein Chronist, "dass im Hotel Löwenthal ebensowohl Israeliten als Christen verkehren". Ein bemerkenswerter Hinweis, wenn man bedenkt, wie wenig Berührungspunkte es außer Geschäftsbeziehungen zwischen Juden und der Mehrheitsbevölkerung damals gab. Ein weiteres Schlaglicht auf Simon Löwenthals gesellschaftliches Ansehen wirft, dass er seine Tochter Selma 1898 mit Ferdinand Hanauer, dem Begründer der Cannstatter Bettfedernfabrik, verheiratet hat.

Seinem 1876 geborenen Sohn Max hat Simon Löwenthal den Pferdehandel übertragen, der ihn unter der alten Firma weiterführte. Wann genau das war, lässt sich nicht mehr sagen, doch darf wohl davon ausgegangen werden, dass der Sohn spätestens mit 18 Jahren, also seit 1894 in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist und Verantwortung übernommen hat. Spätestens 1903, als er sich mit Hedwig Goldmann aus Bamberg verheiratete, dürfte er Alleininhaber des florierenden Unternehmens gewesen sein. Vom Gang der Geschäfte zeugen über die Jahre hinweg Anzeigen der Pferdehandlung in der Stuttgarter Presse, die melden, es sei wieder ein Transport "Belgier" eingetroffen, zu deren Besichtigung eingeladen werde. Bezeichnend für Löwenthals Umgang mit seinen Kunden dürfte die Erinnerung einer Zeitzeugin des Jahrgangs 1920 sein.

"Was für ein guter Mann", beginnt sie zu erzählen, als der Name Löwenthal fällt. Ihr Vater, Landwirt und Fuhrunternehmer, habe immer sechs Pferde im Stall gehabt, vor allem schwere und leistungsstarke Belgier. Gekauft habe er vorzugsweise bei Max Loewenthal, weil der zuvorkommend "bis zum Gehtnichtmehr" blieb, selbst wenn einmal eine Rate nicht ganz pünktlich bezahlt werden konnte. Offenbar verstand Max Löwenthal sein Metier, denn als es später um die Wiedergutmachung ging, hat ihm der der Viehandelsverband Württemberg-Hohenzollern e. V. nachträglich hohes Ansehen und ein gut gehendes Geschäft mit jährlich etwa 500 000 Reichsmark Umsatz bescheinigt. Der Anwalt der hinterbliebenen Tochter argumentierte gar, es sei mit Sicherheit das größte Pferdehandelsunternehmen in Württemberg, vielleicht sogar in ganz Deutschland gewesen.

Die 1904 geborene Tochter Marie war das einzige Kind der Löwenthals. Nun war Pferdehandel traditionell ein Männergeschäft, kaum das richtige Metier für eine junge Dame. In den Wiedergutmachungsakten heißt es, sie sei "nach der seinerzeit für diese Kreise üblichen Schulbildung der höheren Schule [...] von ihrem Vater systematisch zur einstigen Übernahme des elterlichen Garagen- und Tankstellenbetriebs erzogen und ausgebildet." Zu der unternehmerischen Entscheidung, sich auf dieses neue Terrain zu wagen, dürfte Max Löwenthal die Einsicht bewogen haben, dass die Konkurrenz des Automobils dem Pferdehandel auf Dauer die Grundlage entziehen würde. Ein weiteres Motiv zur Gründung der Karlsbrücke-Garagen dürfte die Lage der Grundstücke Wernerstraße und König-Karl-Straße 80 dort gewesen sein, wo der Verkehr aus allen Richtungen zusammenlief.

Dass die Löwenthals ihre Tochter nicht nur auf eine berufliche Zukunft vorbereiteten, sondern ihr auch ein hohes Maß an Selbstständigkeit einräumten, geht aus einem Dokument hervor, das erhalten blieb. Marie beantragte 1921, gerade 17 Jahre alt geworden, einen Reisepass, um zu einer sechswöchigen Kur in die Tschechoslowakei nach Karlsbad zu reisen. Ein so weite Reise und lange Abwesenheit war mit erheblichen Kosten verbunden und setzte voraus, dass die Eltern ihre Tochter für erwachsen und selbstständig genug ansahen. Dafür musste ihre Mutter gegenüber der Passbehörde mit einer eigenhändigen Erklärung einstehen. Vielleicht war es sogar elterliche Absicht, die Tochter an Eigenständigkeit zu gewöhnen.

So wäre der allmähliche Übergang von der Pferdehandlung zum Garagenunternehmen wahrscheinlich erfolgreich verlaufen, hätte sich nicht der aufflammende Antisemitismus seit Anfang der Dreißigerjahre und erst recht seit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten fatal auf das Geschäft von S. Löwenthal ausgewirkt. Ließ sich dies zunächst vielleicht noch auf den Einfluss Einzelner zurückführen, so bestand am staatlichen Willen zur Diskriminierung und Vernichtung jüdischer Unternehmen kein Zweifel mehr, als die 1933 von der NS-Hago-Gauamtsleitung herausgegebene Schrift "Deutscher kaufe nicht beim Juden!" erschien und auch die Firma S. Löwenthal "Pferdehandlg. und Garagen" aufführte.

Zunächst wurde Max Löwenthal zum Verkauf seiner wertvollen Grundstücke gezwungen. Arisierung hieß das und bedeutete, dass die Preise von der Gauwirtschaftskammer diktiert wurden und er als Verkäufer über den Erlös nicht frei verfügen durfte. Im August 1936 wechselte zunächst das Anwesen Mercedesstraße 17 den Besitzer, am 4. Januar 1937 ging auch die König-Karl-Straße 80 an einen "Arier" verloren. Einen Eindruck vom katastrophalen Niedergang des Löwenthal'schen Unternehmens vermitteln die in einer Beitragskarte der Industrie- und Handelskammer verzeichneten steuerbaren Gewerbeerträge der Jahre: 1936: 2140 RM; 1938: 2133 RM; 1939: 46 RM.

Außer vom stetigen Geschäftsrückgang bleibt von den folgenden Jahren nur wenig zu berichtet: Im April 1934 hat Marie Löwenthal den Rumänen Ivan Joan Erlicz geheiratet. Sie wurde rumänische Staatsbürgerin, blieb aber zunächst in Cannstatt wohnen, erst im März 1939 wanderte sie in die Heimat ihres Mannes aus. Inzwischen hatte die Reichspogromnacht für Furcht und Schrecken gesorgt, waren den deutschen Juden zynischerweise für die angerichteten Verwüstungen "Sühneleistungen" auferlegt worden. Diese sogenannte Judenvermögensabgabe betrug für die Löwenthals 4800 Reichsmark. Auch ihrer Wertgegenstände wurde die Familie 1939 beraubt. Ein Ring (Solitär, blau-weiß, eineinhalb Karat), eine goldene Taschenuhr mit Sprungdeckel, eine antike goldene Brosche mit zwei Rubinen, ein Paar Ohrringe mit Orientperlen, eine Perlenkette, eine Platinbrosche mit indischem Saphir und eine goldene Armbanduhr wurden nebst "Silbersachen" im Wiedergutmachungsverfahren geltend gemacht. Das waren schmerzliche materielle Verluste, aber viel tiefer dürfte die emotionale Verletzung gedrungen sein, die der Raub von eng in die Familiengeschichte verflochtenen Erinnerungstücken bewirkt hat.

Die Judenvermögensabgabe als Entrechtungsintrument

Zur Ermittlung der Judenvermögensabgabe musste Max Löwenthal am 30. Dezember 1938 dem württembergischen Wirtschaftsminister ein Vermögensverzeichnis einreichen. Offensichtlich um dem jüdischen Unternehmer mehr Geld abzupressen, wurde die Korrektheit seiner Angaben in Zweifel gezogen und wegen "Verkürzung der Sühneleistung von Juden" ein Strafverfahren eingeleitet. Ein Jahr später, am 11. Dezember 1939 wurde darüber vor einer "Strafsachenstelle" verhandelt und festgestellt, dass ein Max Löwenthal unterstelltes Vermögens-Mehr von 7260 RM nicht bestehe. Das Strafverfahren musste deshalb "zwingend eingestellt" werden. Er habe mit seiner frist- und formgerechten Beschwerde obsiegt und brauche keine fünfte Rate Judenvermögensabgabe zu bezahlen, teilte Löwenthal dem Finanzamt noch am selben Tag mit. Man muss sich vergegenwärtigen, wie weit die Entrechtung der Juden zu dieser Zeit schon vorangeschritten war, um diese Zivilcourage gegenüber einer staatlichen Behörde richtig einzuschätzen.

Ins Jahr 1939 fällt auch, dass Max und Hedwig Löwenthal ihre Fünfzimmerwohnung in der Theobald-Kerner-Straße verlassen mussten. Sie war, wie Frau Elicz später eidesstattlich erklärt hat, "mit kostbaren antiken Möbeln, Gemälden, Perser-Teppichen und Orient-Brücken" eingerichtet. Nur einen kleinen Teil davon konnten sie in das überfüllte Judenhaus Martin-Luther-Straße 2 mitnehmen, wo sie seit der zweiten Jahreshälfte 1941 unter beengten Verhältnissen leben mussten. Dieses Inventar, erfuhr Frau Elicz von der mit ihren Eltern befreundeten Frau Sophie Mannheimer, wurde von der Gestapo abgeholt, als ihre Eltern schließlich nach Oberdorf am Ipf "evakuiert" wurden. Wann genau das war, ist unbekannt. Unbekannt ist auch, um welchen Eingriff es sich gehandelt hat, dem sich Max Löwenthal kurz vor seiner Deportation unterziehen musste. Sein Operateur habe es ohne Rücksicht auf seine eigene Person und die damit verbundene Gefahr gewagt, Max Löwenthal nicht nur zu behandeln, sondern auch für ihn einzutreten. Worin diese Fürsprache bestand, ob sie öffentlich oder über "Beziehungen" erfolgt ist, wird sich kaum mehr aufklären lassen. Gesichert ist sind hingegen der Tag der Deportation am 24. Februar 1942 und der Tag, auf den Max und Hedwig Löwenthal für tot erklärt wurden: der 26. April 1942.

 

Ein Jubiläum aus traurigem Anlass

Seit zehn Jahren verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig Stolpersteine gegen das Vergessen des Naziterrors. Inzwischen sind es rund 42 000. Auf den Gehwegen der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart wurden 2004 die ersten Gedenksteine an die Verfolgten und Ermordeten des Dritten Reichs gesetzt. Die 14 Stuttgarter Stadtteilinitiativen haben bis heute rund 720 Stolpersteine vom Künstlern in die Trottoirs der Stadt einzementieren lassen. Mehr als 100 sind es jetzt im größten Stuttgarter Stadtbezirk, Bad Cannstatt.

Was bedeuten 100 Stolpersteine? "Eine runde Zahl und einen Anlass, einmal auf das Erreichte zurückzuschauen", sagt Rainer Redies von der Cannstatter Stolperstein-Initiative. Vor allem sei das eigentlich traurige Jubiläum aber Ansporn, weiter zu forschen. "Zumal nach den schwer auffindbaren Opfern der Euthanasie und der Kindereuthanesie, nach politischen und 'asozialen' Opfern, Jehovas Zeugen und ausgewandereten Juden, die im Ausland in die Fänge der Gestapo gerieten und deshalb hierzulande nirgends registriert wurden", ergänzt der frühere Verleger. Ansporn vor allem auch, sich der großen Zukunftsaufgabe zu stellen: "Unser Wissen in geeigneten Formen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, auch an junge Menschen, die aus anderen Ländern oder Kontinenten stammen, aber von Rassismus, Flucht, Vertreibung, Völkermord mittelbar oder unmittelbar berührt wurden."

Dafür brüten die Initiativenmitglieder derzeit über einem Projekt Geocaching und haben für ein Unterrichtswerk "Erziehung nach Auschwitz" von Professorin Bärbel Völkel an der Pädagogischen  Hochschule Ludwigsburg) Material und Know-how geliefert. "Angesichts dieser Aufgaben sind eben 100 Steine auch ein willkommener Anlass, in der Hoffnung auf uns aufmerksam zu machen, dass sich neue Mitstreiter und – last, not least – auch Spender finden", hofft Redies. Denn nicht nur die Stolpersteine kosten je 120 Euro, auch Forschung und Öffentlichkeitsarbeit verschlingen leider Geld.

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