KONTEXT:Wochenzeitung
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Alles Lüge außer ich

Alles Lüge außer ich
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Kontext-Kolumnist Peter Grohmann hat seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben. Geboren 1937 in Breslau, musste er mit der halben Familie vor den Russen fliehen. In den Bombennächten von 1945 wurde er in Dresden verschüttet. Über die DDR kam er in den Westen. Hier ein Vorabdruck aus seiner Biografie. Die Episode beginnt mit dem Kriegsende.

Wir waren eine absolut abgebrühte Familie. Erschüttern konnte uns nichts mehr. Wir hatten ausreichend Tote in jedem Zustand und in jedem Alter gesehen, wir hatten Blut und Gift und Galle gespuckt, Gas gerochen, wir waren zwischen alle Schusslinien geraten, haben uns rausgebuddelt aus Bunkern und Kellern, haben gelogen, gestohlen und betrogen, wo es ging, mussten sehen, wie die Zwangsarbeiter mit dem Ochsenziemer bestraft und die Mütter vergewaltigt wurden, auch die eigene, wir sahen die Elbe brennen und die Menschen ins Wasser rennen, wir sahen die Bombengeschwader im Anflug und die weißen Fahnen in den Fenstern....

Die aus dem Osten rollenden Flüchtlingszüge, in denen wir kauerten, hielten tatsächlich in irgendwelchen Lagern, die auch früher irgendwelche Lager waren, und dann wurden wir erst einmal kahl geschoren, Kind und Mann und Maus, bekamen eine warme Decke für die Nacht und eine Schüssel Suppe und, wenn man Glück hatte, ein paar neue Klamotten.

Wir waren im neuen Deutschland, jetzt konnte es nur noch besser werden. Tambach-Dietharz im Thüringer Wald hatte Glück – wir wurden dort zugewiesen. Manche waren nur Flüchtlinge, andere nur Heimatvertriebene. Wieder andere waren nur Reichsdeutsche oder nur Evakuierte oder Umsiedler. Oder Ausgebombte. Wir waren alles. Darauf waren wir stolz als Kinder.

Schlepper sprachen die Flüchtlinge an

Am Rande der Alb saß der Vater in einem kleinen Zimmer in Zwiefalten und schrieb in die DDR: "Die Leute hier essen Kartoffeln und Nudeln in der Brühe, alles zusammengekocht. Manchmal soll Fleisch drin sein. Gaisburger Marsch. Wenn ihr kommt, schenke ich jedem eine Banane. Sie sind sehr fromm." Alles stimmte. Wobei aber das "fromm" nichts besagte, gar nichts. 

Die Mutter: "1951 türmte ich mit den beiden Jungs und dem Vater hinterher. Zuerst fuhr'n wir mit der Reichsbahn in die Nähe der Zonengrenze ..." Schlepper sprachen die Flüchtlinge an und versprachen ein sicheres Geleit über die Grüne Grenze. Eine russische Patrouille erwischte uns – doch die Russen wiesen im Tausch gegen den goldenen Ehering den richtigen Weg ins Paradies – den freien Westen ...

Zwiefalten war eine einzige Enttäuschung. Kein Bahnhof. Aber ein katholisches Münster. Weit und breit keine Bananen. Stattdessen zu viert in einem Zimmer. Nebenan die Verrückten der Heil- und Pflegeanstalt.

Die Kinder des Dorfes durften nicht mit den Schmuddelkindern aus der Ostzone spielen. Die konnten alles, nur kein Schwäbisch. Die hatten ein Stück von der Welt gesehen. Die waren Flüchtlinge und die Eltern Sozialdemokraten. Die waren nicht getauft. Das war fast so schlimm wie evangelisch. 

"Wenn die Schule aus war, trieben se sich auf den Feldern herum. Wenigstens warn se draußen. Und die kam 'immer ganz meschugge' zurück, wenn se mit die Verrückten gespielt hatten, ham die halbe Nacht rumgefantert", erzählte die Mutter. Die Aufpasser sahen das nicht gern. Man traute den Kranken noch weniger über den Weg als den Flüchtlingen. "Wenn de mit die noch mal spielst, gibt's was auf die Gusche!", drohte mir die Mutter, und der Vater warnte: "Die sind gefährlich, wie ich gehört habe ..."

Gedenkhefte für die SS 

Ganze vier Jahre Schule – und dann drei Jahre Ausbildung zum Schriftsetzer. Der Meister war ein alter Kommisskopp, der in guten Stunden seinen Russlandfeldzug noch mal machte – schön für mich, dann musste ich nicht arbeiten, konnte zuhören und den Stauner spielen. Natürlich musste ich zwischendurch vor Schreck die Hand vor den Mund halten und "furchtbar" sagen oder kluge Fragen stellen, zum Beispiel wo denn bitte sehr die Panzerunterstützung geblieben sei und warum Guderian im Regen stehen gelassen wurde. Es waren schöne Schlachten für mich, die Schlachten der Wehrmacht. "Alles Verbrecher!", zischte der Geselle dem Lehrling zu. Zwischendurch kam einer der alten Generale persönlich ins Druckereibüro. Da nahm der Meister Haltung an und salutierte. Anschließend wurde der Druckauftrag für eine Broschüre oder ein Gedenkheft erörtert – das nächste SS-Treffen war bald, es hieß also Überstunden schieben. 

Die Gewerkschaft hat mir da nüscht genutzt. Selbstverständlich war so gut wie jeder Schriftsetzer oder Buchdrucker Mitglied der Industriegewerkschaft Druck und Papier, das war auch die erste Frage, die mir der einzige Buchdruckergeselle beim Lorch, meiner Lehrfirma, stellte: Mitglied im Verband? Klar! Vieles, was ich lernte vom Satz und Druck und Leben, brachte er mir bei, aber vor dem ollen Militärkopp oder Überstunden konnte er mich auch nicht schützen.

Um sechse war Feierabend. Aber so kurz vorher hatte der Meister gemeinerweise fast immer noch einen kleinen Auftrag für mich, Bude fegen, Holz holen, Papier sortieren. Wenn das alles erledigt war, konnte ich abhauen. Zum guten Schluss drückte er mir dann aber noch einen Stapel Briefe oder Pakete in die Hand. Die sollten noch am gleichen Abend bei der Kundschaft sein. Schon wieder gespart! Saudumm nur, dass es nur bis halber achte abends Essen gab im Lehrlingsheim. Glücklicherweise war aber nach dem Briefeaustragen meistens noch was übrig. Meine fünf Zimmergenossen im Lehrlingsheim hatten nämlich ein kleines Lägerle für Essbares zwischen der Unterwäsche. Es war verboten, Essbares in den Zimmern zu lagern, von wegen Hygiene. Verhungert bin ich nicht.

 

Peter Grohmann gehört zum Kontext-Freundeskreis der ersten Stunde. Fast für jede Ausgabe liefert er sein "Wettern der Woche". Der politische Autor und Kabarettist sieht sich als "Kämpfer gegen Obrigkeitsstaat, Gehorsam und Standesdünkel". Vor 20 Jahre gründete Grohmann das Bürgerprojekt "Die Anstifter". Am Sonntag, den 27. Oktober, feiert er 76. Geburtstag und stellt im Stuttgarter Theaterhaus seine Autobiografie "Alles Lüge außer ich" vor. Beginn: 11 Uhr. 

Peter Grohmann: "Alles Lüge außer ich. Eine politische Biografie". 320 Seiten, 121 Abbildungen, Silberburg-Verlag 2013.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Grohmann
    am 23.10.2013
    Antworten
    .. das Buch kostet 24,90 und kann im Buchhandel, bei den AnStiftern,
    Werastraße 10, 70182 Stuttgart, oder den diversen Lesungen bezogen werden. Gegen einen Aufpreis von 10 Cent mit live-Signatur des Autors.


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