KONTEXT:Wochenzeitung
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Streitobjekt Stammheim

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Die RAF-Ausstellung im Stuttgarter Haus der Geschichte wird besser besucht als erwartet. Einige wichtige und kritische Beiträge abseits vom offiziellen Ausstellungskatalog sind in der Kontext:Wochenzeitung erschienen. Diesmal melden sich zwei Zeitzeugen zu Wort. Einer bezichtigt den RAF-Richter Kurt Breuker, die Wahrheit zu verdrehen.

 

Breucker und das Pippi-Langstrumpf-Prinzip

Von Wolfgang Hänisch

Die Ausstellung "RAF – Terror im Südwesten" im Stuttgarter Haus der Geschichte wird von der "Stuttgarter Zeitung" (StZ) publizistisch begleitet. In diesem Zusammenhang interviewte die StZ in ihrer Ausgabe vom 17. 7. 2013 den pensionierten Richter Kurt Breuker, der 1977 als Beisitzer den Prozess gegen die Angeklagten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe mit leitete.

Zu diesem Interview gäbe es viel zu sagen, zum Beispiel einiges über die absolute Befangenheit des Richters gegenüber den Angeklagten und ihren Verteidigern, die noch heute aus jeder Zeile des Interviews spricht. Kostprobe: "Der linke Rechtsanwalt Hans Christian Ströbele, der ja immer gern das Maul aufreißt ..." (man beachte die Gegenwartsform!). Heute wie damals offenbart Richter Breuker ein "taktisches Verhältnis zur Wahrheit". Zu der Abhöraffäre (Verfassungsschutz und BND hatten Gespräche der Angeklagten mit ihren Verteidigern abgehört) sagt er im Interview: "Wir verlangten sofort von den beteiligten Regierungsstellen volle Aufklärung und eine Garantie, dass so etwas nicht mehr passiert."

Tatsächlich stellte der Vorsitzende Richter Foth erst mal zum Entsetzen nicht weniger Juristen fest, dass die Abhöraffäre den Prozess selber nicht berühre. Es bedurfte des Auszugs der Wahlverteidiger und mehrerer Anträge der gerichtlich bestellten Pflichtverteidiger, bis der Vorsitzende Richter sich dazu durchringen konnte, solche Abhörmaßnahmen zu verbieten. Das ganze Hin und Her dauerte über zwei Wochen – "sofort" sieht anders aus. Die "beteiligten Regierungsstellen" kümmerten sich im Übrigen einen Dreck um die richterliche Anordnung und verwanzten auch noch die Zellen der Angeklagten.

Vollkommen grotesk ist die Begründung des Richters, die Polizei wollte durch die Abhörmaßnahmen nach dem Anschlag in Stockholm weitere Attentate verhindern. Die Wanzen wurden aber im März 1975 installiert, einen Monat vor dem Stockholmer Anschlag am 24. April 1975 und zwei Monate vor Prozessbeginn am 21. Mai 1975.

Auch was die Ablösung des Vorsitzenden Richters Theodor Prinzing wegen Befangenheit angeht, verfährt Richter Breuker nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip: "Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!" Im Interview heißt es: "Er hatte den Pflichtverteidiger eines Angeklagten angerufen, der einst Referendar bei ihm gewesen war. Dieser Vorfall ist darauf zurückzuführen, dass man Dr. Prinzing systematisch zermürbt hatte."

Tatsächlich hat dieser Vorfall eine interessante Vorgeschichte: Beschwerde- und Revisionsinstanz für den 2. Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts, vor dem gegen die RAF-Mitglieder verhandelt wird, ist der dritte Strafsenat beim Bundesgerichtshof. Sein Vorsitzender ist der Bundesrichter Albrecht Mayer.

Dr. Herbert Kremp ist Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und war in derselben Studentenverbindung wie Albrecht Mayer. Am 20. 7. 1976 schreibt Albrecht Mayer einen Brief an seinen "Lieben Cartellbruder Kremp". Darin bittet der Richter Mayer den Chefredakteur Kremp unter Zuhilfenahme von Kopien der kriminalpolizeilichen Vernehmung von Gerhard Müller (Kronzeuge der Anklage, obwohl eine gesetzliche Kronzeugenregelung erst 1987 eingeführt wird), die ihm Prinzing privat hat zukommen lassen, einen Artikel in der "Welt" zu platzieren, der geeignet ist, die Glaubwürdigkeit von Otto Schily, Verteidiger im RAF-Prozess, zu erschüttern. "Es wäre mir lieb, wenn die übersandten Unterlagen ( ...) nach Gebrauch vernichtet würden", heißt es am Schluss der Briefes.

Am 10. Januar 1977 stellt Otto Schily deswegen einen Befangenheitsantrag gegen den Richter Prinzing. Der wird prompt zurückgewiesen – wie alle Befangenheitsanträge vorher auch. Daraufhin stellt erstmals einer der gerichtlich bestellten Pflichtverteidiger, Manfred Künzel, einen Befangenheitsantrag. Auch der wird verworfen.

Der Senatsvorsitzende Prinzing ärgert sich über den Befangenheitsantrag seines Exreferendars Künzel so sehr, dass er ihn deswegen anruft, um ihm seine Enttäuschung mitzuteilen. Es sei für ihn etwas anderes, ob einer der Vertrauensverteidiger oder eben Künzel einen solchen Antrag gegen ihn einbringe. Dieses Telefonat bringt Prinzing endgültig zu Fall. Zwar werden noch in Windeseile weitere Befangenheitsanträge abgelehnt. Als aber Künzel seinem ehemaligen Ausbilder rasch einen Brief schickt, in dem er ihm sogar noch die Möglichkeit einräumt, selbst zurückzutreten, was dieser strikt ablehnt, scheidet Prinzing wegen Befangenheit aus dem Verfahren aus.

Angesichts solcher massiven Rechtsverstöße gewährt die Überzeugung von Richter Breuker, "dass der Bundesgerichtshof das Urteil nicht aufgehoben hätte", einen tiefen und erschreckenden Einblick in dessen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit.

Der Ausgang des Verfahrens ist bekannt: Alle Angeklagten wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, ohne dass die individuelle Tatbeteiligung jeweils nachgewiesen werden konnte – das ist nebenbei auch für den Zschäpe-Prozess von Interesse. Eine Revision scheiterte an dem größten Verfahrenshindernis, das es gibt: am Tod der Angeklagten.

 

Wolfgang Haenisch, 59, lebt als nebenberuflicher freier Autor in Stuttgart und hat mehrfach zur Geschichte der RAF veröffentlicht.

 

In Stammheim herrschte Chaos

Von Carl-Josef Kutzbach

Dass man gerne genau wüsste, was geschah, keine Frage. Ich habe damals im Untersuchungsausschuss des Landtags für den SWF und auch in Stammheim bei zwei Prozessen viele Stunden zugebracht und bin zu folgendem Fazit gekommen:

Stammheim war damals chaotisch. Der Chef wollte schon längst weg, konnte nur noch mit Medikamenten Dienst versehen; der Anstaltsarzt hatte vor Selbsttötungen gewarnt. Die Vollzugsbeamten, die bei der RAF eingesetzt waren, wurden von den übrigen Beamten angefeindet, weil sie – laut Ministerium – etwas Besonders und Besseres sein sollten, aber es gar nicht waren. Schlechte Stimmung, unklare Verhältnisse, Ärger anderer Gefangen über die "Vorzugsbehandlung" der RAF, zum Beispiel deren lautstarke Aktivitäten; kurz es ging drunter und drüber. Der Starkstrom-Elektriker, der den Zellentrakt vom Rundfunksystem trennte, bedachte nicht, dass Lautsprecher wie Mikrofone wirken können (war ja auch nicht seine Aufgabe). Nicht einmal die Postkontrolle funktionierte einwandfrei. Zwar wurde alles Mögliche zurückgehalten, aber eine Henkersschlinge wurde zugestellt. In der Anstalt gab es eine Art Kampf jeder gegen jeden, so der Eindruck beim Untersuchungsausschuss.

Aus alldem habe ich damals den Schluss gezogen, dass es in einem derartigen Chaos sehr schwierig, wenn nicht unmöglich war, irgend etwas "geheim" durchzuziehen. Irgendwer – so mein Eindruck im Untersuchungsausschuss – hätte das zumindest hinterher verraten. Das ist aber meine Theorie, kein sicheres Wissen.

Meinhofs Selbsttötung – nach dem Ausschluss aus der Gruppe – ähnelt ein wenig der Situation des letzten Kaisers von China, der erst dann über sich selbst nachzudenken begann, als er isoliert war. Und da könnte der klugen Frau aufgegangen sein, wie sehr sie sich in einer Parallelwelt verrannt und wie sehr sie ihren Kindern geschadet hatte. Das Erkennen der eigenen Fehler und die Aussichtslosigkeit, das je wieder gutmachen zu können, könnte eine Selbsttötung erklären.

Wie sehr sich die RAF intellektuell verrannt hatte, war unter anderem auch an den Tiraden ihrer Mitglieder in den Stammheimer Prozessen erkennbar. Und gerade diese scheinbar ganz auf Vernunft zielende "Denke" zeigt die emotionale Armseligkeit, die im Moment der Isolierung – wenn man mit sich und seinen Gefühlen allein ist – zum Kollaps führen kann, eben weil man sich vorher ganz konsequent bemüht hat, nur vernünftig zu sein, nur konsequent zu sein und auf keine Gefühle (eigene, der Opfer oder der Öffentlichkeit) Rücksicht nehmen zu müssen.

Ohne jetzt die verstorbenen RAF-Mitglieder zu kennen, könnte das ein ausreichender Grund zur Selbsttötung sein, wenn alle Hoffnung auf Freiheit (die ja auch ein Symbol ist der eigenen Überlegenheit, der eigenen Großartigkeit, die über jedem Gesetz steht) verloren geht.

Meine Begegnungen mit Überlebenden und einer Meinhof-Tochter zeigten, dass die Aktiven sehr viel Leid verursachten und wohl auch selbst darunter litten, nicht etwas Besseres mit ihrem Leben angefangen zu haben.

Auf der anderen Seite zeigt die RAF, dass eine kleine Gruppe Entschlossener in unserer Gesellschaft viel bewegen kann (was ja auch in der Finanzkrise sichtbar wurde, die von relativ wenigen Strippenziehern und Investmentbankern weltweit verursacht wurde, nachdem sie die Politiker übertölpelt hatten). Man könnte also aus den Vorgängen rund um die RAF schließen, dass einerseits das gesellschaftliche System erfreulich veränderbar ist, aber logischerweise auch zum Schlechteren. Ob und wie man das verhindern könnte, ohne das System zu lähmen, oder wie man Menschen, die Veränderung ersehnen, davor schützen könnte, so in die Irre zu gehen, das wäre eine spannende und nützliche Frage.

Hilfreich wäre dabei, wenn die bisher ungeklärten Fragen beantwortet wären, sodass man statt Legenden und Verdächtigungen die Fakten kennen würde und sich nun darauf konzentrieren könnte, was man daraus für die Gesellschaft lernen kann. Ich vermute, manches wird – wie die Verstrickungen ehemaliger Nazis in der jungen Bundesrepublik – erst dann aufgedeckt, wenn die Betreffenden nicht mehr leben und niemand mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann oder wenn die Akten nach Jahrzehnten freigegeben werden.

Ich fände eine Analyse, wie die RAF und die damalige Gesellschaft sich veränderten (und damit auch das politische System) und was man daraus (für Gesellschaften, für politische Systeme, für heute und die Zukunft) lernen könnte, sehr spannend.

Die Klärung der noch offenen Fragen wäre ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.

 

Carl-Josef Kutzbach, 63, arbeitet seit 1974 als freier Autor in Stuttgart für verschiedene Medien.


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5 Kommentare verfügbar

  • Zaininger
    am 13.10.2013
    Antworten
    Bei allen offenen Fragen zum Komplex Stammheim lässt sich eines mit Sicherheit feststellen: da haben Juristen (deren Lehrer und Doktorväter Mühe hatten ihre braune Justizkarriere in die westdeutsche Gesellschaft zu retten) den von ihnen geforderten Soll an maximaler Strafverfolgung und Abschreckung…
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