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Langer Atem

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"Man kann sich das Leben malen, wie man es gerne hätte – allein, es hilft nichts", schickt Gangolf Stocker seiner Sicht über den Widerstand gegen Stuttgart 21 voraus. Der Tiefbahnhof werde nicht an den Kosten scheitern, sondern nur, wenn er sich für Bahn und Baufirmen nicht mehr rechne, so der Gründervater der Protestbewegung.

Als die Bahn samt ignoranten Politikern noch von 2,5 Milliarden Euro Kosten und vom bestgeplanten Projekt der Deutschen Bahn sprach, rechneten wir der Öffentlichkeit vor, dass die Kosten mindestens sieben Milliarden Euro betragen werden. Als dann die Kosten bis Ende 2009 peu à peu bis zum vereinbarten Kostendeckel von 4, 5 Milliarden Euro stiegen und dann im Dezember 2012 weiter auf bis zu 6,8 Milliarden Euro explodierten, da rechneten wir mit dem Ende von Stuttgart 21.

Wir wurden eines Besseren belehrt: An den Kosten wird Stuttgart 21 nicht scheitern. Mir ist nicht bekannt, dass auch nur eine der S 21 befürwortenden Parteien über diese Kostenexplosion überhaupt beraten hätte, in sich gegangen wäre. Das tat dann der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn, der – gegen die Stimme des Vertreters der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) und in Abwesenheit des Finanzstaatssekretärs – im vergangenen März für den Weiterbau votierte. Die Vertreter der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) stimmten dafür. Zwei Wochen später war dann auch der Tarifvertrag zwischen der EVG und der Bahn unter Dach und Fach: Eine Hand wäscht die andere.

Wir haben lernen müssen: Was es kostet, ist egal, denn es zahlt der Steuerzahler.

Zu den Kritikern von Stuttgart 21 gehörten und gehören viele Fachleute, Menschen, die etwas von der Sache verstehen, sei es von der Bahnsystematik, der Bahntechnik, von der Geologie, vom Brandschutz, vom Tunnelbau und von vielem mehr. Sie alle mussten die Erfahrung machen, dass es auf Befürworterseite niemanden interessiert, was sie vortragen. Frei nach dem Motto, was interessieren mich Fakten – ich habe meine Meinung, ignorierten die meisten Politiker Argumente. Mir ist nicht bekannt, dass die Stuttgart-21-Fans im Stuttgarter Gemeinderat auch nur ein einziges Mal ins Grübeln gekommen wären. Warum auch? Ihre sogenannten "Pro"-Argumente sind noch immer diejenigen aus den Broschüren der Bahn von 1995.

Wir haben lernen müssen: Welche Probleme bei Stuttgart 21 auftreten werden und ob Stuttgart 21 überhaupt funktioniert, ist egal.

Logisch, dass die Bahn ganz offen erklärt, jetzt so viel zu bauen wie geht. Wenn erst mal der Filderaufstiegstunnel von oben her (von unten her kämen sie gleich in unausgelaugten, mit Wasserzutritt aufquellenden Gipskeuper) bis zur Hälfte vorangetrieben ist, hat man die Politik im Schwitzkasten, und ein Abbruch des Projekts ist nicht mehr denkbar. Und dann – ganz offen sagt das der fabelhafte Projektsprecher Herr Dietrich – wird die Bahn das Land und die Landeshauptstadt auf Mitfinanzierung verklagen. Die baden-württembergische Landesregierung und der Stuttgarter Gemeinderat schauen diesem Treiben, welches sich ja gegen Land und Stadt richtet, tatenlos zu.

Stuttgart 21 hat in die Bundesrepublik hinein gewirkt und weit darüber hinaus. Mit unseren Protesten und der Gestaltung unseres Protests haben wir weltweit Aufsehen erregt. Mit diesem Protest hat die Stadt sich und andere verändert.

Wir treten jetzt in eine neue Phase ein. Aus eigener Kraft – wie wir es noch vor 18 Monaten meinten – werden wir Stuttgart 21 nicht mehr kippen können. Wir haben zwar eine 60 Jahre währende CDU-Herrschaft im Land beendet – aber das in diesen 60 Jahren von der CDU aufgebaute Netzwerk aus Institutionen, Verbänden und Vereinen besteht weiterhin und bewies bei der Volksabstimmung seine Lebendigkeit. Wir haben zwar einen grünen OB gewählt, aber die ignorante S-21-Mehrheit inklusive SPD im Gemeinderat bleibt bis Mai 2014, und Fritz Kuhn weiß das.

Die Profiteure von S 21 sind weder wähl- noch abwählbar: Das sind die Baukonzerne und Banken. Und Herrenknecht, der badische Tunnelbohrerfabrikant. Und einige wenige andere. Die machen einfach weiter und versuchen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Und wir können sie nicht daran hindern. Das einzusehen fällt schwer, spiegelt aber die Realität wider.

Es ist keine Schande, gegen die Mafia zu verlieren

Wir haben es mit einem Netzwerk von Baukonzernen, Banken, Politikern, Teilen der Landesregierung und von Staatsanwälten und Richtern zu tun. Dazu kommen alle jene, die für Gutachten und sonstige Dienstleistungen gekauft wurden oder werden. Kurzum – wir haben es mit einer Mafia zu tun. Gegen eine solche Mafia phasenweise zu verlieren ist keine Schande. Gegen eine solche Mafia braucht es den langen Atem. Und ein langes Gedächtnis. Denn dann, wenn wir am Ende recht behalten, soll es nicht nur beim schalen Triumph bleiben, sondern dann fordern wir die Verantwortlichen heraus, notfalls auch aus dem Rentner- oder Pensionärsstand.

Wir hatten einmal den Konsens, dass wir die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 nicht persönlich führen wollten. Das ist zu überdenken. Politiker, die Fakten schlichtweg ignorieren, sind verantwortlich für die Folgen. Und die werden für die Stadt und für das Land katastrophal sein. Ob solche Gemeinderäte, Bezirksbeiräte und andere Parteiarbeiter zum handelnden Teil gehören, also zur Mafia, sei dahingestellt: Sie sind verantwortlich!

Es steht nun der letzte Planfeststellungsabschnitt an. Selbstverständlich wird der von den Fachleuten gründlich begleitet und von einer kompetenten Steuerungsgruppe vorbereitet werden. Die Ausgangsposition für die Tiefbahnhofs-Gegner ist ungleich besser als bei den bisherigen Planfeststellungsverfahren: Das Projekt ist nicht finanziert; vor allem aber fehlt die Planrechtfertigung, weil wir mittlerweile nachweisen können, dass Stuttgart 21 weniger Kapazität hat als der heutige Kopfbahnhof. Wir müssen also nicht mehr in den schwierigen Vergleich K 21 gegen S 21. Dennoch soll sich niemand der Illusion hingeben, man könne mit diesem letzten Planfeststellungsverfahren Stuttgart 21 noch kippen.

Verpflichtet, alles dagegen zu tun

Stuttgart 21 ist ein politisch gewolltes Projekt; ob es funktioniert und was es kostet, ist den Betreibern egal.

Dennoch sind wir verpflichtet, alles, wirklich alles zu tun, um der Öffentlichkeit diese politisch gewollte Katastrophenplanung verständlich zu machen. Das müssen und das können wir tun. Und überall dort, wo die Eiterblasen dieser S-21-Planung aufgehen, diese aufstechen und mit dem Finger darauf zeigen. Das können und sollten wir und alle Bürgerinnen und Bürger tun. Die Bahn weiß es, die Baukonzerne auch, und die Subunternehmer werden es noch lernen: Stuttgart 21 ist ein schwieriges Pflaster. Wir haben vorhin festgestellt, dass Stuttgart 21 nicht am fehlenden Geld scheitern wird; wenn es sich aber für die Konzerne nicht mehr rechnet, sehr wohl. Das hat das Beispiel Transrapid gezeigt.

Über die aktuellen Protestformen (Montagsdemos und andere) kann man streiten. Niemand wird aber behaupten wollen, dass der montägliche Protest die Politik noch beeindruckt. Wenn es aber nur annähernd zutrifft, dass Kundgebung und Protest abstoßend auf Dritte wirken und die Protestierenden als "verbitterte" und "rechthaberische Alte" wahrgenommen werden, dann muss umgedacht werden. Vielleicht sollte man Kundgebungen anlassbezogen, also aufgrund eines Ereignisses, welcher Art auch immer, aber dann mit guten, aufklärerischen Botschaften machen.

Jedenfalls sind viele Tausende Menschen nicht mehr dabei. Und sie haben deshalb ein schlechtes Gewissen. Warum denn? Wir können stolz auf uns sein, auf das, was wir erreicht und verändert haben. Mir ist das sehr wichtig: Hey, Leute, wir haben etwas Einzigartiges zusammen gezeigt: Demokratie auf der Straße, machtvoll, friedlich, fröhlich und kulturvoll. Und beispielhaft für viele andere. Aber jetzt brauchen wir einen langen Atem. Unsere Stärke war immer die Wahrheit. Die Wahrheit über Stuttgart 21. Zehn Jahre Aufklärung in den Jahren 1996 bis 2006 waren die Voraussetzung für die Massenproteste in den Jahren 2009 und 2010. Es gilt nun, die Arbeiten mit unserer Kritik zu begleiten, der Wahrheit über Stuttgart 21 Gestalt zu geben. Und da sind wir doch ganz gut. Wir bleiben unangenehm und lästig und ausdauernd. Versprochen. Wie hieß es doch so richtig: "Ihr werdet uns nicht los – wir euch schon!"

Erinnern wir uns: Jahrzehntelang wurde die Kritik von Leuten wie Schuster, Teufel, Mappus, Mehdorn und auch den Medien (der SWR macht das heute noch) einfach ausgeblendet. Es gab uns nicht, vor allem nicht die Inhalte unserer Kritik in der öffentlichen Wahrnehmung. Bis die Montags- und Großdemos anfingen. Auch jetzt versucht man einfach so zu tun, als wäre der Weiterbau Alltag. Aber die Medien (bis auf den SWR) sind sensibler geworden. Unsere Kritik ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Der "Alltag" dauert nur bis zur nächsten Panne, der nächtlichen Ramm(bo)-Action, der nächsten kleinen Katastrophe. Da sind wir dann dabei. Sollten wir den Weiterbau vorab nicht aufhalten können, so sind wir doch die lauten Chronisten der Katastrophe. Eine letzte Bitte: Intellektuelle und Künstler in der Stadt und im Land, meldet euch, ergreift das Wort, macht es wie Walter Sittler, Volker Lösch, Urban Priol, Georg Schramm, Matthias Richling und viele andere. Euer Wort ist für die Menschen wichtig und für die Medien ebenso.

Auf den langen Atem, auf unsere Geduld.


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42 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 10.10.2013
    Antworten
    @D. Ehmann
    nein, Sie benutzten gern das neutrale "man", "es wäre"
    wo SIE wirklich stehen wird nie deutlich.
    und geantwortet haben Sie mit nix, ausser dass mir "Sie"-BenimmBelehrungen angedient wurden.

    aber lassen wir das, entweder stimmt die Dialog-Chemie oder nicht
    es gibt halt Leute die…
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