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Frust essen Vertrauen

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Sie zählten nach Zehntausenden, manchmal sogar auch mehr als hunderttausend – die Demonstranten gegen Stuttgart 21. Fast zwei Jahre nach der gescheiterten Volksabstimmung sucht die bürgerliche Protestbewegung, die ein ganzes Land politisiert hat, nach alten Gemeinsamkeiten und neuen Zielen.

Sie waren geeint durch die berechtigte Hoffnung, den unsinnigen Tiefbahnhof zu verhindern: stark, konsequent, ideenreich. Viel ist davon geblieben – und zugleich zu wenig. Drei Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag demonstrieren sie wieder: 7000 Teilnehmer melden die Veranstalter der 191. Montagsdemo am 30. September. Ein langer Zug, viele bekannte und manche prominente Gesichter, eine friedliche Stimmung, wie sie kennzeichnend war für so viele Veranstaltungen. "Wir werden immer mehr", singt ein Gitarrist. An der Ecke Bolzstraße steht ein Polizist und lobt wartende Autofahrer für ihre Geduld. "Es ist fast wie früher", sagt er.

Fast. Denn selbst die 7000 können nicht darüber hinwegtäuschen, wie die Proteste von früherer Stärke entfernt sind. Wie Geschichtenerzählerinnen unterhalten sich einige Frauen an der Markthalle über den ersten Ratschlag im Rathaus. Damals, eine Woche nach der Volksabstimmung, als fast 800 Kopfbahnhofbefürworter gegen Resignation und Entmutigung ankämpften: mit identitätsstiftendem Erfolg, Stunden, wie geschaffen für ein Handbuch zum Thema politische Motivation und Partizipation.

Gut eineinhalb Jahre und vier Große Ratschläge später der erste Kleine Ratschlag im Württembergischen Kunstverein. Es geht an diesem Septemberabend kurz vor der Bundestagswahl um Zustand und Struktur, um Finanzen und Vertrauen, darum, welche Gremien was bestimmen (dürfen) oder wie der Widerstand demokratisiert und legitimiert werden kann. "Wir leiden unter dem Eindruck, dass wir keine großen Erfolge mehr zuwege bringen", gibt einer zu und verweist auf die Absage der Großdemo vor der Bundestagswahl – "aus Angst, wir könnten uns blamieren". Er habe "keine Hoffnung mehr, wirklich was zu erreichen", meint ein anderer. Die ersten der rund 80 Interessierten gehen schon nach einer Stunde. Eine Frau beklagt die Selbstbespiegelung, eine andere "den Frust und das Misstrauen, die die Stimmung inzwischen bestimmen".

Dann spricht der unverwüstliche Peter Grohmann. Wie schon so oft will er aufrütteln und zugleich den großen Bogen schlagen. Weil er Stuttgart 21 "als Prinzip versteht, der Zerstörung von Natur, der Ausplünderung von Ressourcen, der Profitmaximierung, der Privatisierung und Verweigerung demokratischer Rechte". Er redet den Anwesenden ins Gewissen, warnt mit trojanischer Stentorstimme davor, sich noch weiter von der Realität zu entfernen. Viele Zuhörer verkennen seine Absichten, sehen in ihm eher den Kabarettisten als den Politikaktivisten. Schenkelklopfen gegen den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. "Der Widerstand richtet sich immer gegen einzelne Projekte, ist gewissermaßen eine Ein-Punkt-Bewegung", schreibt Jura-Professor Wolfgang Däubler den Demonstranten am Montag ins Stammbuch. Was vielen fehle, "ist eine Sicht auf die ganze Gesellschaft".

Stattdessen dreht sich ziemlich viel ums Geld, seit Aktivist Dominik Zwuckelmann vor einigen Wochen im Internet mit seinen "Unerhörten Forderungen" aufschlug. Gewisse Passagen zur Rolle des BUND im Aktionsbündnis, zu fehlender Transparenz und unterstellten Quersubventionen hat er inzwischen durchgestrichen. Leserlich sind sie geblieben: "Wie viel Geld nun dem Widerstand durch das Aktionsbündnis zur Verfügung steht, wird damit zu einer fast beliebigen, politischen Abwägung nicht entzogenen, intransparenten Manövriermasse." Die Vorwürfe sind ausgeräumt – natürlich gibt es beim BUND getrennte Konten und keine Quersubventionierungen –, das Gift der Unterstellung wirkt aber. Es soll Überlegungen in dem Verband geben, der mit Brigitte Dahlbender bis zur Volksabstimmung sogar die Vorsitzende des Aktionsbündnisses stellte, die Mitgliedschaft im bald 20 Jahre alten Aktionsbündnis niederzulegen. Was nicht zuletzt wegen der organisatorischen Potenz des BUND ein weiterer harter Schlag wäre.

Zugleich passt, das wird beim ersten Kleinen Ratschlag einmal mehr deutlich, die ganze Richtung des seit Anfang 2012 von dem Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper umsichtig geleiteten Bündnisses vielen nicht (mehr). Wer über die Finanzen bestimmt, will Zwuckelmann wissen, weil die Macht hat, wer Geld einnimmt und ausgibt. Dass neben dem BUND Regionalverband Stuttgart, neben Pro Bahn, VCD oder der Schutzgemeinschaft Filder noch immer Parteien – die Grünen und die Sozialdemokraten gegen Stuttgart 21 –, aber auch Gewerkschafter vertreten sind, ist mehreren Rednern ein Dorn im Auge. Einer spricht gar von einem Geburtsfehler, andere wollen – wieder einmal – die Legitimation einzelner Gruppen und ihrer Vertreter diskutiert sehen. Eisenhart von Loepers Mahnung, von pauschaler Parteienschelte Abstand zu nehmen, stößt kaum auf Gegenliebe. Was Tradition hat: Beim zweiten Großen Ratschlag im März 2012 gab's den mit Abstand größten Applaus für die Forderung, politische Parteien wie den Kreisverband der Grünen, die Linken und die Gruppe Sozialdemokraten gegen S21 aus den Beschlussgremien herauszuhalten. Applaus, wohlgemerkt. Aber die damals veranstaltete aufwändige Umfrage mit einem Rücklauf von mehr als 500 Antwortkarten kam über 25 bis 30 Prozent Ja-Stimmen nicht hinaus.

Hass auf Kretschmann

Eine gefühlte Mehrheit nehmen gerade die Grünen-Verächter dennoch für sich in Anspruch. Lauter denn je. Vier Tage vor der Bundestagswahl war die Stimmung auf dem Schlossplatz weder friedlich noch gelassen, und gesungen hat auch keiner. Dafür reichlich hasserfüllte Gesichter, ohrenbetäubende Pfeifkonzerte, "Judas"-, "Aufhören"- oder "Herrenknecht"-Sprechchöre. Mittfünfziger, die sich an den Holzstangen ihrer Plakate festhalten, brüllen sich die Seele aus dem Leib, als Winfried Kretschmann das Wort ergreift. Andere Stuttgart-21-Gegner versuchen, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. Keine Chance, da ist nichts als geballte Wut, die sich entladen muss.

Später, als die Fieberkurve sinkt, sind dann doch noch Gespräche möglich. Unvergessen und nie zu verzeihen ist vor allem Kretschmanns Ankündigung im Herbst 2010, die Zahlungen an die Bahn einzustellen. "Falls die Grünen nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg Regierungsverantwortung tragen, werden wir bereits gezahlte Beträge zurückverlangen", zitiert einer den damaligen Wahlkämpfer und heutigen Regierungschef. Und ein anderer erinnert an eine gemeinsame Erklärung mit der heutigen Ministerin im Staatsministerium, Silke Krebs, damals Grünen-Landeschefin, zum möglichen Koalitionspartner SPD. Die werde sich aus dieser babylonischen Gefangenschaft der Projektbefürworter befreien müssen, wenn sie eine Koalition mit den Grünen wolle. "Wir sind verraten worden", sagt eine Frau und prophezeit den Absturz der "machtgeilen Lügner bei allen weiteren Wahlen".

Wahltag ist Zahltag, so oder so. Die Grünen haben bei der Bundestagswahl in Stuttgart überdurchschnittlich viel verloren, aber zugleich mit 45 000 Stimmen noch immer doppelt so viele auf sich vereint wie jene, die sich ausdrücklich eine Fortsetzung des Kampfes gegen Stuttgart 21 auf Fahnen und Plakate schrieben. Auch bei der 191. Montagsdemo sind Grüne dabei und Genossen und Gewerkschafter. Wolfgang Däubler macht sich und ihnen und allen anderen Mut mit einer alten Losung: "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren." An Herausforderungen und Aufgaben ist ohnehin kein Mangel. So wirbt Eisenhart von Loeper für die Idee eines dritten Bürgerbegehrens, weil die Bahn die Öffentlichkeit über die Kosten getäuscht habe.

Beim Kleinen Ratschlag gab es an anderer Stelle Zustimmung: "Ziviler Ungehorsam wird während der Bauarbeiten eine größere Rolle spielen", hieß es. Oder: "Wir werden Sachen machen, die wehtun und die Stadt lahmlegen." Beim schmerzlichen Jubiläum am 30. September ist es kurzfristig tatsächlich so weit. Erstmals seit langer Zeit bricht der Verkehr in Teilen des Stuttgarter Zentrums wieder zusammen ...


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11 Kommentare verfügbar

  • Kritischer Normalbürger
    am 14.10.2013
    Antworten
    @ oliver ulrich.
    "Diese unglaubliche PR-Maschinerie wirkt leider auf sehr vielen Ebenen auf die Meinungsbildung vieler (uninformierten) Menschen. Es ist die stärkste Waffe der Projektbetreiber."

    So ist es! Mit der richtigen PR können Sie auch Kühlscvhränke an Eskimos verkaufen. Nichts anderes…
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