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Spießer im Koma

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Null Alkohol an Brennpunkten – das will der neue Stuttgarter Polizeipräsident und der baden-württembergische Ministerpräsident sowieso. Und die Zeitungen titeln im Chor: "Generation Vollrausch" und "Koma-Kids am Limit". Was machen Deutschlands Jugendliche eigentlich noch so außer saufen? Die Philosophiestudentin Elena Wolf (27) hat sich auf die Suche gemacht – und Erstaunliches herausgefunden.

Wenn man die regelmäßige Berichterstattung und die Statistiken ernst nimmt, die neben der Überfettung und Verdummung der heutigen Jugend ihr Trinkverhalten anprangern, kann man sich schon mal fragen: Was machen heutige Jugendliche eigentlich noch außer saufen? Auch Vati scheint zu wissen, dass ein Kasten Bier zwar auch früher schon gut reinlief, was jedoch in keiner Relation zum heutigen Alkoholkonsum der Jugendlichen stünde. Spätestens seit irgendein ausgekochter Hexenmeister die teuflischen Alcopops erfunden hat, ist klar: Jugendliche sind im Dauerrausch – dumm, fett und ständig besoffen. Zum Glück sind die Rotzlöffel laut Pisa-Studie auch miese LeserInnen, sonst wüssten sie vielleicht, dass ihre AltersgenossInnen in Amerika Alkohol schon lange nicht mehr saufen, sondern über Trockeneis-Inhalatoren rauchen. Das sind Profis. Aber das ist Amerika. Bleiben wir in Deutschland.

Schaut man auf die aktuellen Zahlen, die das Statistische Bundesamt regelmäßig veröffentlicht, scheint zunächst auch alles statistisch fundiert zu sein: Im Jahr 2011 waren 26 351 Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht worden. Zwar sind das genau 77 weniger als 2009, doch verglichen mit den Jahren davor hat sich Deutschlands Zukunft fleißig an die Spitze gebechert. Das passt auch ganz gut zum Ergebnis der neusten Shell-Jugendstudie, aus der hervorgeht, dass für 60 Prozent der deutschen Jugendlichen Fleiß und Ehrgeiz besonders wichtig ist.

In acht Jahren zum Abi und mit Vollgas in die Ausnüchterungszelle

Zum Glück gibt es Erwachsene, die ihren Alkoholkonsum im Griff haben und die zweittödlichste Droge der Welt (neben Zigaretten) genuss- und maßvoll zu behandeln wissen. Deshalb geht aus derselben Studie des Statistischen Bundesamts auch hervor, dass rund 25 000 Erwachsene zwischen 45 und 55 Jahren im Jahr 2011 ebenfalls mit der Diagnose "F 10 – Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol" – kurz: Alkoholvergiftung – im Krankenhaus behandelt wurden. Von den zahlreichen Erwachsenen, die ohne einen Feierabendhelm nicht ins Bett schwanken, ganz zu schweigen.

Der Alkoholexzess scheint offensichtlich kein genuines Jugendproblem, sondern ein gesamtgesellschaftliches zu sein, und es sieht so aus, als gäbe es zumindest eine Konstante im Kausalzusammenhang zwischen jugendlichen KomasäuferInnen und erwachsenen Trinkern: die Leistungsgesellschaft.

Der Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier untersucht die Lebenslagen von Jugendlichen in ebenjener und das mediale Echo der Erwachsenen, das ihnen regelmäßig entgegenschlägt, wenn alarmierende Statistiken eine abgefuckte Jugend im Dauerrausch proklamieren. Dabei würde nicht gesehen, dass "die Rolle des flexiblen Menschen, der niemals in eine zumindest vorübergehende stabile Lage zu kommen scheint, dessen Leben der tägliche Kampf und den Aufstieg oder den Nicht-Abstieg ist, für die Jugend mehr Zumutung als positive Herausforderung ist".

Kennzeichnend für den Umgang mit der komasaufenden Jugend ist dabei der immer gleiche Fragenkatalog: Wer ist schuld? Warum sind die Eltern nicht in der Lage, ihren Kinder den richtigen Umgang mit Alkohol beizubringen? Was kann und soll der Staat leisten, um dem feuchten Treiben Einhalt zu gewähren?

Doch statt zu fragen, wie Staat und Eltern durch Repression und Erziehung, durch höhere Altersgrenzen, Aufenthaltsverbote und Platzverweise die trinkfeste Jugend in den Griff bekommen, muss man fragen, was die Ursachen jugendlichen Handelns sind. Es ist kein Geheimnis, dass jede Generation ihre Jugendlichen schon immer als die schlimmsten empfunden hat. Viel geheimnisvoller ist die Frage, weshalb das so ist. Auffällig ist lediglich, dass die Vorwürfe immer von der Seite der Alten ausgehen.

Generation Vollrausch – der normale Wahnsinn

So fand ein amerikanisch-deutsches Forscherteam zuletzt heraus, dass ältere Leute ihre negative Einschätzung der Jugendlichen gerne von den Medien bestätigt wissen wollen. Junge Leute hingegen, so die Forscher in der Wissenschaftzeitung "Journal of Communication", haben kein Interesse, negative Dinge über Ältere zu lesen. Lieber lesen sie über andere Jugendliche. Das Forscherteam fand heraus, dass viele Ältere deshalb Berichte über die "schlimme Jugend" lesen wollen, weil es ihr eigenes Selbstvertrauen steigert.

Die Jüngeren haben den Forschern zufolge noch keine so gefestigte soziale Identität und interessieren sich deshalb wertfrei für Lebenswege anderer junger Menschen. "Unsere Erkenntnisse stützen die Annahme, dass Menschen die Medien nutzen, um ihre eigene soziale Identität zu stärken", erklärt Silvia Knobloch-Westerwick von der Ohio State University. Man kann also davon ausgehen, dass die "Generation Vollrausch" in 30 bis 40 Jahren über die nächste Generation "schlimmer" Jugendlicher herzieht – zur Wahrung der eigenen sozialen Integrität.

Dennoch haben sich Deutschlands Jugendliche kontinuierlich in statistische Krankenhaus-Höchstform gesoffen – Erwachsene aber auch. Zwar lässt sich erklären, dass sich das Bedürfnis älterer Leute, Negatives über Jugendliche zu lesen, und die Masse an reißerischen Vollrausch-Artikeln gegenseitig bedingen – mit 18 schreiben die wenigsten Zeitungsartikel. Doch weshalb gesoffen wird, ist weiterhin unklar.

Bleiben wir bei Bernhard Heinzlmaier und der Leistungsgesellschaft. Wir hatten festgestellt, dass es wenig Sinn macht, nach jeder Phase der medialen Panik vor komasaufenden Jugendlichen zu fragen, welche Geschütze der Repression und Erziehung jetzt aufgefahren werden müssen. Fragen wir uns doch lieber, in was für eine Welt Jugendliche heute geworfen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass heute schon Kinder nachweislich Burn-outs erleben, weil sie zwischen Hausaufgaben, Nachhilfekursen, Yoga und Japanisch kaum mehr Luft zum Atmen haben, um bloß den goldenen Schnitt fürs Gymnasium zu erreichen, scheint es kaum verwunderlich, dass sich laut der DAK-Gesundheitsstudie vermehrt GymnasiatInnen in die Klinik saufen.

Hier geht der ganz normale Wahnsinn nämlich weiter. Der ständige Druck, Bestleistungen zu erbringen, um bloß nicht zurückzubleiben, zwingt die Jugendlichen heute, schon im Vorschulalter eine erfolgversprechende Ich-AG zu gründen, um später als gut geöltes Rädchen in die eiserne Hochleistungsmaschine eingesetzt werden zu können. Diese belastenden Anforderungen, gepaart mit einer ungewissen Zukunftsperspektive – so Heinzlmaier – sind der Stoff, aus dem viele Hosen bestehen, in die man hier geneigt ist zu scheißen.

Erwachsen werden ist Krieg. Die Jugend bekommt keine Zeit mehr – dem wichtigsten Kapital, um sich über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse klar zu werden. Der Highspeed-Übergang von Grundschule zu weiterführenden Schulen und Studium oder Beruf lässt keinen Raum, um in einer Gesellschaft, die vorgibt, Individualität zu feiern, festzustellen, dass sie eigentlich angepasste Hosenscheißer heranzüchtet. Eine Politik, die dennoch suggeriert, "Bildung" zu fördern, indem sie williges Humankapital generiert, ist vor diesem Hintergrund ein trauriger Witz. Aus wirtschaftlicher Sicht ist der Witz jedoch ein richtiger Schenkelklopfer, denn während die Jugendlichen im Leistungssprint gar nicht mitkriegen, was da gerade mit ihnen passiert, kommen sie auch nicht auf die Idee, dem Wahnsinn die Stirn zu bieten, Nein zu sagen: Zu angenehm ist die Umarmung der warmen Zwangsjacke. Erwachsen werden ist Krieg – aber keiner geht hin. Darauf erst mal 'n Schnaps.

Erwachsen werden ist Krieg

Es lässt sich offensichtlich wunderbar eine Brücke aus Korn (für AmateuerInnen wahlweise Eierlikör) zwischen den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft und dem Trinkverhalten Jugendlicher schlagen – aber nicht zwingend. Fragt man einen der bekanntesten Jugendkulturforscher Deutschlands, ist der ganze Hype um die versoffene Jugend totaler Quark. Klaus Farin leitet das Archiv der Jugendkulturen in Berlin und beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten neben jugendlichen Subkulturen mit Jugendszenen in Deutschland.

Auf meine Frage, ob die Anforderungen der Leistungsgesellschaft den jugendlichen Rausch perpetuieren, meinte er – im doppelten Wortsinne – nüchtern, dass die Drucksituation der Jugendlichen zwar sicher auch eine Rolle spielen würde, doch das tue sie beim Saufen doch irgendwie immer. Viel gesoffen hätte man schon immer, so Farin, lediglich die öffentliche Wahrnehmung alkoholkonsumierender Jugendlicher hätte im Public-Viewing-Zeitalter zugenommen. Statt zu Hause in Papis Hobbykeller wird eben draußen gesoffen; statt auf der heimischen Couch auszunüchtern, bekomme man im Krankenhaus eine Vitaminspritze und würde am nächsten Morgen heimgeschickt, sagt mir Farin mit der an Gleichgültigkeit grenzenden Coolness eines Vollprofis.

Verdammt, dachte ich, der Mann macht mir meine Story kaputt. Wie unendlich gerne hätte ich die Schuld auf die CDU und ihre gelben Freunde geschoben, die Jugendliche mit ihrer beschissenen Bildungspolitik ins Koma treiben. Doch es sei noch nie so wenig gesoffen worden wie heute, betonte Farin mit lässigem Nachdruck. Wie passt das denn zusammen mit dem Koma-Highscore?

Nimmt man sich für die Unmengen an Zahlen und statistischen Erhebungen etwas mehr Zeit, zeichnet sich überraschenderweise tatsächlich ein interessantes Bild ab: Zwar sind immer mehr Jugendliche mit F-10-Diagnose ins Krankenhaus gekommen, doch die Zahl der Jugendlichen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, ist laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung seit den 70er-Jahren auf dem Tiefstand. Dass fast jeder Jugendliche irgendwann schon mal an Muttis Ramazotti-Flasche geleckt hat, ist klar – geht aber mit der Frage, ob man schon mal Alkohol getrunken hätte, in eine Statistik ein, die später herangezogen wird, um zu beweisen, dass Jugendliche alle saufen.

Laut Farin ist es lediglich ein Wahrnehmungsproblem, dass das Bild vom Vollrausch-Jugendlichen generiert, weil sich der Alkoholkonsum in die Öffentlichkeit verlagert hat. Die Jugendlichen wären sogar so brav wie nie verglichen mit den Erwachsenen, für die regelmäßiger Alkoholkonsum völlig normal ist – so Farin. Umso bizarrer sei die spießbürgerliche, repressive Politik, die die Jugendlichen unter dem Vorwand des Jugendschutzes gängelt, statt zu sehen, dass sie sich längst schon eine Spießerjugend heranzüchtet hätte, die gar keinen Bock auf Alkohol hat.

Rauchen tut im Übrigen sowieso keiner mehr. Bei Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren sank der Anteil der RaucherInnen von 27,5 Prozent im Jahr 2001 auf zwölf Prozent im Jahr 2012. Knapp 72 Prozent der Jugendlichen haben sogar noch nie an einer Kippe gezogen – wow. Statt zu sehen, dass unsere Gesellschaft schon längst kleine BiedermännerInnen hervorgebracht hat, denen in 15 Jahren sogar die romantisierte Erinnerung an die erste (wenn auch letzte) Kippe im elterlichen Gartenhäuschen fehlt, stilisiert sich Deutschland wieder mal als paranoider Übersicherheitsstaat, der Jugendlichen im Prohibitionswahn sogar selbst das Gefühl gibt, schlecht zu sein. Die heutige Jugend braucht gar keine Alten mehr, die sie schlechtredet – das übernehmen die Streber selber.

Übermotivierte Start-up-Bienchen

Das wirkliche Problem sind also nicht saufende Jugendliche, die sich zwischen Alltagsstress und ungewisser Zukunft aus Frust die Kante geben, sondern Jugendliche, die ganz im Sinne der neoliberalen Leistungsgesellschaft so überangepasst sind, dass Rauchen und Trinken nicht mehr ins Bild eines motivierten Start-up-Bienchens passt. Zur Mobilisierung der eigenen Ich-AG rennt man lieber ins Fitnessstudio, um in "best shape" zu bleiben – in Bestform. Der Verzicht auf Alkohol als ein (gesundes) Nebenprodukt der totalen Affirmation. Das Problem ist eine Jugend, die sich wie klebriger Kuchenteig in eine gefettete Form gießen lässt, statt den Hochofen zu hinterfragen. Anstatt sich am Mythos "Sex, Drugs and Rock 'n' Roll" abzuarbeiten und mit den Eltern über Lebensentwürfe und andere Ansichten zu streiten, geben laut Shell-Jugendstudie über 90 Prozent der befragten Jugendlichen an, dass sie mit den Erziehungsmethoden der Eltern einverstanden sind – drei Viertel der befragten Jugendlichen würden ihre eigenen Kinder sogar genau so erziehen.

Schmeichelhaft für Mutti und Vati – doch Reibung erzeugt Wärme, und nur was heiß wird, kann brennen. Wer brennt denn heute noch? Ein kluger Mann hat mal gesagt, dass er nie jemandem zu Drogen, Alkohol, Gewalt oder Wahnsinn raten würde, es für ihn aber immer funktioniert hätte. Abgesehen davon, dass sich Hunter S. Thompson ("Fear and Loathing in Las Vegas") mit 67 Jahren das Hirn weggeschossen hat, wollte er damit vielleicht nur sagen, dass jeder selbst rausfinden muss, was gut für ihn ist. Dass Jugendliche im Vergleich mit den 70er-Jahren nicht mehr regelmäßig trinken, ist gesundheitlich gesehen eine bemerkenswerte Entwicklung; wenn dafür jedoch jegliche Kritikfähigkeit verloren geht, ist die heutige Jugend vielleicht doch die schlimmste. Aber ich bin nur eine (fast) erwachsene Philosophin, die den Rausch feiert, und muss das so sagen.


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8 Kommentare verfügbar

  • liane
    am 01.10.2014
    Antworten
    UND ist es nicht besser, wenn Jugendliche zusammen saufen als die vielen heimlichen Hausfrauen/Politiker/Manager - Süchtigen?
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