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Wähler im Wartestand

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In fast keinem anderen europäischen Land steigt die Zahl der Nichtwähler so rasant wie in Deutschland. Für Dietmar Molthagen von der Friedrich-Ebert-Stiftung eine beunruhigende Entwicklung, durch die sich Demokratiedistanz und Politikverdrossenheit ausdrückt.

Wahlen sind der Kernbereich des demokratischen Staates. In Wahlen vergeben die Wählerinnen und Wähler als demokratischer Souverän für eine bestimmte Zeit die legislative und exekutive Gewalt. Neben anderen politischen Beteiligungsmöglichkeiten ist das Wählen damit der wichtigste politische Akt in einer Demokratie.

Entsprechend wichtig ist die Frage, was es für eine Demokratie bedeutet, wenn ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung sein Wahlrecht nicht ausübt. Dies ist in Deutschland der Fall, wo wir seit Jahrzehnten einen in der Tendenz kontinuierlichen Rückgang der Wahlbeteiligung erleben. Bei der Bundestagswahl 2009 blieb jeder dritte Wahlberechtigte der Wahl fern. Bei den jüngsten Landtagswahlen beteiligten sich zuletzt zwischen 47,7 Prozent (Sachsen-Anhalt 2011) und 62,7 Prozent (Rheinland-Pfalz 2011) der WählerInnen, und auf kommunaler Ebene geben in der Regel nur zwischen 35 und 45 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In den Worten des politischen Feuilletons gewinnt damit die "Partei der Nichtwähler" die absolute Mehrheit.

In der Politikwissenschaft wird die Frage nach dem steigenden Anteil der Nichtwählerinnen und Nichtwähler unterschiedlich beantwortet. Es gibt die These, eine abnehmende Wahlbeteiligung sei in etablierten Demokratien normal und daher undramatisch. Dagegen spricht allerdings, dass in fast keiner anderen westeuropäischen Demokratie die Wahlbeteiligung so stark gesunken ist wie in Deutschland. Und in einigen Ländern wie Dänemark oder Schweden sind bei den vergangenen Wahlen sogar wieder mehr Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gegangen.

Eine weitere These lautet, dass eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Politik im Speziellen und der Demokratie im Allgemeinen die WählerInnen davon abhalte, zur Wahl zu gehen. Dagegen spricht jedoch die häufig geäußerte Kritik an der Politik und die in Umfragen gut belegte Unzufriedenheit eines großen Anteils der Bevölkerung mit der konkreten Politik in Deutschland (von der Friedrich-Ebert-Stiftung zuletzt erhoben in der Studie "Die Mitte im Umbruch – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012").

Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist daher nicht der Meinung, eine niedrige Wahlbeteiligung sei kein Problem. Vielmehr sehen wir eine Gefährdung der Demokratie gegeben, wenn große Teile der Bevölkerung der Wahl fernbleiben und mit der Besetzung von Parlamentssitzen sowie der Bildung einer Regierung nichts zu tun haben wollen. Und für eine Institution, die den Werten der sozialen Demokratie verpflichtet ist, stellt die Wahlenthaltung erst recht ein Problem dar. Schließlich geht es der sozialen Demokratie gerade darum, niemanden zurückzulassen – weder ökonomisch noch politisch.

Gerade weil die Förderung von gleichberechtigter politischer Beteiligung – und damit die Förderung der Demokratie insgesamt – das zentrale Ziel der Friedrich-Ebert-Stiftung ist, erfüllt uns der Trend zur Nichtwahl in Deutschland mit Sorge. Dieses Unbehagen war Ausgangspunkt einer Studie zu Nichtwählern in Deutschland im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Es sollte genauer erforscht werden, wer die Nichtwählerinnen und Nichtwähler sind, was sie politisch denken, wie zufrieden sie mit der Demokratie einerseits und mit der praktischen Politik andererseits sind und unter welchen Bedingungen sie sich vorstellen können, wieder zur Wahl zu gehen. Das Ziel dieser Untersuchung war es, die Gruppe der Nichtwähler genauer beschreiben zu können und dabei herauszufinden, ob die Wahlenthaltung ein Zeichen für Demokratiedistanz ist und ob wiederholte Nichtwahl gleichbedeutend ist mit steigender Politikverdrossenheit.

Die Ergebnisse der Studie, die das unabhängige Institut forsa – Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analyse mbH im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt hat, präsentieren wir in einem Buch. Besonders wichtig war uns dabei der Umstand, dass das gewählte Forschungsdesign keine Momentaufnahme darstellt, sondern die Nichtwahl in einem längeren Zeitraum untersucht, was somit Rückschlüsse auf Entwicklungen im Verhältnis zum Wahlakt, zum politischen Prozess und letztlich zur Demokratie insgesamt zulässt.

Die Untersuchungsergebnisse bestätigen, dass es durchaus eine Gruppe von dauerhaften NichtwählerInnen gibt, die erhebliche Politikdistanz und durchaus erkennbare Demokratiedistanz aufweisen. Dass sich diese "Dauer-Nichtwähler" überproportional stark unter Angehörigen der Gesellschaftsschichten mit niedrigerem Einkommen und kürzerer Bildungsbiografie finden, führt zu einer verstärkten Schieflage der gesellschaftlichen Repräsentanz der Wählenden – kurz gesagt: Ein niedrige Wahlbeteiligung ist sozial ungerecht. In der Erhebung stellen die "Dauer-Nichtwähler" aber bei Weitem nicht die größte Gruppe der befragten NichtwählerInnen. Interessant ist vielmehr, dass die große Mehrheit der Befragten politisches Interesse äußert und in den politischen Diskurs eingebunden ist. Viele NichtwählerInnen verstehen sich als nach wie vor dem politischen Geschehen zugehörig. Sie sind somit gerade nicht dauerhaft politikfern, sondern vielmehr "Wähler im Wartestand". Sie sind für Parteien und PolitikerInnen erreichbar und geben in der Befragung auch Auskunft darüber, welche Erwartungen sie an Politik haben.

Unverkennbar ist aber auch das hohe Maß an Unzufriedenheit mit der Politik, mit PolitikerInnen und Parteien. Diese bestehende Unzufriedenheit gilt es erst zu nehmen, unabhängig von der Frage, ob man sie für berechtigt hält oder nicht. Dass Unzufriedenheit sich auch aus sozialer Unsicherheit beziehungsweise Prekarisierungserfahrungen speist, gibt bereits einen Hinweis darauf, wie dieser Trend auch wieder gestoppt werden könnte.

Mit ihrer Nichtwähler-Studie möchte die Friedrich Ebert Stiftung über ein wichtiges Phänomen der gegenwärtigen Demokratie in Deutschland informieren und zum Dialog anregen. Wir wünschen der Studie viele Leserinnen und Leser und eine breite Diskussion über mögliche Konsequenzen aus ihren Ergebnissen. 

 

Dr. Dietmar Molthagen ist Referent im Forum Berlin der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.

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<link http: library.fes.de pdf-files dialog _blank>Nichtwähler in Deutschland


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1 Kommentar verfügbar

  • Jörg Krauß
    am 13.09.2013
    Antworten
    Aus meiner Einschätzung heraus kommt auch ein Zusammenhang zum Tragen, der auch als quasiphilosophisch einzuordnen ist. Abertausende Arbeitnehmer arbeitet Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr in eine Alterarmut hinein, die von sogenannten Politikern worthülsenreich "verwaltet" wird. Also…
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