KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

RAF: kein Fall fürs Museum

RAF: kein Fall fürs Museum
|

Datum:

Ob Stammheimer Todesnacht oder Buback-Prozess – viele Fragen zur Rote-Armee-Fraktion sind noch nicht abschließend beantwortet, es werden sogar neue aufgeworfen. Auch im Jahr 2013, in dem das Stuttgarter Haus der Geschichte eine viel beachtete Sonderausstellung über die linksextremistische Terrorgruppe zeigt. Die RAF ist noch kein Fall fürs Museum.

April 2013: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart trifft eine Entscheidung in Sachen Rote-Armee-Fraktion (RAF). Die Ermittlungen zur Todesnacht im Oktober 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim werden nicht wieder aufgenommen. Beantragt hatten das im Oktober 2012 der Bruder der getöteten RAF-Insassin Gudrun Ensslin, Gottfried Ensslin, und der Buchautor Helge Lehmann.

In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 kamen in Stammheim die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe ums Leben. Laut amtlicher Version durch eigene Hand. Baader und Raspe sollen sich erschossen, Ensslin soll sich erhängt haben. Ein vierter Häftling, Irmgard Möller, überlebte mit Stichverletzungen in der Brust. Die habe sie sich selber zugefügt, heißt es. Möller bestreitet das bis heute.

Der Autor Helge Lehmann und Ensslins Bruder Gottfried zweifeln die amtliche Version an. Sie sagen nicht, die Gefangenen wurden ermordet. Sie sagen nur, es ist ungeklärt, wie sie zu Tode kamen. Von Anfang an sei nur in Richtung Suizid ermittelt worden. Fremdverschulden wurde ausgeschlossen. Lehmann und Ensslin haben 32 Punkte zusammengetragen, die ihre Zweifel begründen sollen. Unter anderem: Der angebliche Schmuggel von Waffen ins Gerichtsgebäude hinein, versteckt in ausgehöhlten Schnellheftern, sei nicht möglich gewesen. Die angebliche selbst gebaute Gegensprechanlage unter den Gefangenen habe nicht funktioniert. Der Stuhl, auf den sich Gudrun Ensslin gestellt haben soll, sei nie auf Fingerabdrücke untersucht worden. Drei Briefe von ihr seien vom Generalbundesanwalt unterschlagen worden. Warum fehlen auf den Waffen Fingerabdrücke? Warum wurden die Schüsse nicht von anderen Insassen gehört, obwohl keine Schalldämpfer gefunden wurden? Und so weiter. 

"Ergänzendes Vernehmungsprotokoll" im Briefkasten

Am 18. Oktober 2012, exakt 35 Jahre nach der Todesnacht, stellten Lehmann und Ensslin ihre Initiative in Berlin der Presse vor. Sie beantragten bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart die Neuaufnahme des Todesermittlungsverfahrens. Dabei sollten solch simple Untersuchungen vorgenommen werden wie Schusstests ohne Schalldämpfer, um festzustellen, ob die Schüsse von anderen Gefängnisinsassen hätten gehört werden müssen.

Ursprünglich hatten Lehmann und Ensslin 31 Punkte aufgelistet. Doch dann kam unvermittelt ein neuer, merkwürdiger Sachverhalt dazu. In Lehmanns Briefkasten fand sich ein Schreiben, anonym eingeworfen. Ein angebliches "ergänzendes Vernehmungsprotokoll" des Landeskriminalamts mit dem Justizwachtmeister Hans Rudolf S. In der Todesnacht schob er zusammen mit einer Kollegin im siebten Stock in Stammheim Dienst, dort, wo die RAF-Leute einsaßen. Die Kollegin hatte sich von 0.30 Uhr bis 5.00 Uhr schlafen gelegt. In dem "Protokoll" gibt S. an, mitten in der Nacht zu einer anderen Wache in der JVA gerufen worden zu sein, um dort auszuhelfen. Dadurch sei der siebte Stock etwa drei Stunden unbewacht gewesen.

Dieses zugespielte "Protokoll" nahmen Lehmann und Ensslin nun als 32. Punkt in ihren Antrag auf. Das war ein Fehler, denn das "Dokument" ist, so die Staatsanwaltschaft, gefälscht. Sowohl das LKA als auch der Justizbeamte S. bestritten, dass es diese "ergänzende Vernehmung" gab. Die Kriminaltechnik stellte eine falsche Schreibmaschinen-Type fest. Vor allem mit Hinweis auf diese Fälschung lehnte die Staatsanwaltschaft am 19. April 2013 den Antrag auf neue Ermittlungen ab. 

Für Zweifel ist kein Platz in der Ausstellung

Juni 2013: Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg öffnet seine Türen für eine Präsentation der Geschichte der RAF. "Terror im Südwesten", so der Titel der weit beachteten Ausstellung. Auch die Stammheimer Todesnacht vom Oktober 1977 kommt darin vor. Die Zweifel von Helge Lehmann und Gottfried Ensslin schlagen sich aber nicht nieder. Die Darstellung orientiert sich an der offiziellen Version. Die Ausstellungsmacher gehen ungerührt vom Selbstmord der RAF-Mitglieder aus. Der negative Bescheid der Stuttgarter Justizbehörde auf den Wiederaufnahmeantrag von Lehmann-Ensslin kam so gesehen zur rechten Zeit. Was, wenn die Behörde anders hätte entscheiden müssen? Der Vorgang zeigt, wie komplex die Geschichte der RAF ist – und wie ungeklärt.

Dabei räumt Sabrina Müller, die verantwortliche Historikerin für die Ausstellung, ein, dass nicht alles, was Lehmann und Ensslin vorbringen, von der Hand zu weisen sei. Nur: Widerlegungskraft haben die Zweifel bisher nicht gewonnen. Doch für Müller ist die RAF sowieso noch nicht Geschichte. Schon allein deshalb, weil deren Taten nicht hinreichend aufgeklärt seien. Zum Beispiel sämtliche Morde der 80er-Jahre, die der RAF zugeschrieben werden. Immer noch wird ermittelt, und immer noch wird gefahndet – zwar nicht tatsächlich praktisch, aber formell. Das Museum merkte das auch daran, dass nicht alle Asservate, die es für die Schau haben wollte, von den Ermittlungsbehörden freigegeben wurden. Zum Beispiel die Auflösungserklärung der RAF von 1998. Das Kündigungsschreiben einer Terrororganisation – seltsam genug, die Sache.

Nicht museumsreif sind auch die Motorradhelme der zwei Attentäter, die am 7. April 1977 in Karlsruhe Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster ermordeten. Auch dieser Anschlag ist nicht aufgeklärt. Die Helme werden nach wie vor für Ermittlungen gebraucht. Und das, obwohl gerade erst ein Prozess zum Fall Buback beendet wurde – der gegen Verena Becker vor dem Oberlandesgericht Stuttgart vom September 2010 bis zum Juli 2012. Wer die drei Männer erschoss, konnte er aber nicht klären. Das hatte vor allem mit dem Geheimdiensthintergrund zu tun, der in dem Verfahren sichtbar wurde. Die Angeklagte, das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker, war auch Informantin des Verfassungsschutzes. Unklar ist bis heute, wie umfangreich die Zusammenarbeit war und wie lang sie dauerte. Das Gericht ist am Ende an einer doppelten Mauer gescheitert: den Ex-RAF-Mitgliedern, die bis heute schweigen, und dem Verfassungsschutz, der seine Erkenntnisse und seine mögliche Rolle versteckt hält, geschützt von der Bundesregierung.

Ankläger übernahmen die Rolle der Verteidiger

Auffällig dann vor allem das Verhalten der Bundesanwaltschaft: Sie sah die Angeklagte nie als Mordschützin und versuchte, sie gegen entsprechende Vorwürfe, vor allem vom Nebenkläger Michael Buback, dem Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, zu verteidigen(!). In ihrem Jahresbericht 2012 greift die Karlsruher Behörde gar zu einer offen wahrheitswidrigen Darstellung. Nach den Feststellungen des OLG, schreibt Harald Range, sei die Angeklagte Becker weder an der Vorbereitung noch an der Tat selber beteiligt gewesen. Doch das OLG hatte nicht die "Unschuld" Beckers festgestellt, sondern lediglich, dass ihr die Tat "nicht nachgewiesen" werden könne. Das ist etwas ganz anderes. Wer 1977 den obersten Strafverfolger der BRD getötet haben könnte, kann die oberste Strafverfolgungsbehörde bis heute nicht sagen. Ermittelt wird seit Jahren noch gegen Stefan Wisniewski. Viel in der Hand hat die Bundesanwaltschaft nicht gegen ihn.

Jedenfalls wirkt der Fall weiter unmittelbar in die Gegenwart. Und vielleicht ist das der Grund für das äußerst seltsame Urteil, das der Strafschutzsenat am 6. Juli 2012 im Buback-Prozess nach 21 Monaten Verhandlungsdauer fällte: Becker wurde verurteilt, nicht wegen Mordes, sondern wegen Anstiftung zum Mord. Im Prinzip wegen Mitgliedschaft in der RAF. Vom Strafmaß vier Jahre Haft gelten zweieinhalb als verbüßt. Das Urteil war eine Art Kompensationsgeschäft. Allerdings müssten nach seiner Logik die Strafverfolgungsbehörden nun weitere Verfahren gegen Ex-RAFler anstrengen. Das Urteil ist immer noch nicht rechtskräftig. Sowohl die Verurteilte als auch der Bruder Bubacks, ebenfalls Nebenkläger im Prozess, haben Revisionsanträge gestellt. Die liegen seit Kurzem erst beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Wann darüber entschieden wird, ist noch nicht absehbar.

Der Buback-Becker-Prozess war ein Umgang mit Geschichte, der diese zugleich fortschreibt. Sabrina Müller besuchte die Gerichtstage zur Vorbereitung ihrer RAF-Ausstellung. Sie konnte Zeitzeugen treffen oder Asservate sehen. Zum Beispiel das Motorrad, eine Suzuki-Maschine, von der herab der Dreifachmord in Karlsruhe begangen wurde. Doch dieses Objekt steht exemplarisch für die Doppelbödigkeit des Komplexes RAF bis heute.

Ein Beweisstück wurde verkauft

Die Bundesanwaltschaft hatte das Fahrzeug im März 1982 über einen Notar veräußert. Georgios G., der im Raum Stuttgart wohnt, kaufte es für 3500 Mark. G. ist der einzige Nachbesitzer, das Motorrad gehört ihm bis heute. Als der Buback-Prozess am 30. September 2010 begann, 33 Jahre nach dem Attentat, galt das Motorrad als "verschwunden". Die Bundesanwaltschaft hätte es von heute auf morgen ermitteln können. Tat sie aber nicht. Besitzer G. meldete sich von sich aus, als er in der Zeitung las, dass das Fahrzeug vom Gericht gesucht wird. Nun wurde die Maschine als Beweisstück in den Prozess eingeführt. Man muss wissen, dass sich wichtige Indizien und Zeugenaussagen daran knüpfen. Zum Beispiel der Schraubenzieher aus dem Bordwerkzeug, den Verena Becker bei ihrer Festnahme bei sich hatte. Oder Augenzeugen der Tat, die auf dem Sozius eine Frau gesehen haben wollen, die die tödlichen Schüsse abgab. Die Bundesanwaltschaft behauptet bis heute, zwei Männer seien auf dem Motorrad gesessen. Von Michael Buback, dem eigentlichen Motor des Prozesses, erfährt man, dass sich immer noch, auch im Jahr 2013, Zeugen an ihn wenden, die damals in Tatortnähe das Motorrad mit einer Frau auf dem Beifahrersitz wahrgenommen haben wollen.

Nach dem Ende des Prozesses überließ Georgios G. das Motorrad leihweise dem Haus der Geschichte für die RAF-Ausstellung. Dort steht es als letztes Ausstellungsstück und dokumentiert zweierlei: Es ist a) ein Tatwerkzeug im Buback-Mord, aber b) ein Artefakt für verweigerte Ermittlungen der Bundesanwaltschaft bei der Aufklärung des Mordes.

Doch das wird in der Ausstellung nicht vermittelt. Ebenso wenig wie der ungeklärte Verfassungsschutzhintergrund des Falles. Diese Dimension blenden die Stuttgarter Ausstellungsmacher aus. Sie bleiben innerhalb der bekannten Inszenierung von Terror und Terrorbekämpfung.

Der Juli 2013 und die zweifelhafte Todesnacht von Stammheim: Helge Lehmann und Gottfried Ensslin sind mit ihrem Antrag auf Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens gescheitert. Man kann wohl davon ausgehen, dass die beiden die "Protokollfälschung" nicht selber zu verantworten haben. Offensichtlich wurde ihnen eine Falle gestellt, in die sie allerdings leichtfertig gestolpert sind. Sie hätten nur einmal den Justizwachtmeister Hans Rudolf S. fragen müssen. Derzeit wollen sie sich nicht dazu äußern. Sie prüften, sagen sie nur, ob sie gegen den negativen Bescheid der Stuttgarter Staatsanwaltschaft vorgehen. Diese Prüfung dauert inzwischen Wochen. Was bleibt, sind nicht ganz unwichtige Fragen: Wer hat die Fälschungsoperation durchgeführt? Wer braucht so etwas und warum? Denn: Zeigt der Vorgang im Umkehrschluss nicht, dass die Einwände gegen die amtliche Version der Stammheimer Todesnacht nicht ganz grundlos sind?

1998 erklärte die Rote-Armee-Fraktion ihre Selbstauflösung. 15 Jahre später präsentiert das Haus der Geschichte in Stuttgart den Rückblick auf den RAF-Terror im Südwesten, in den innerhalb von sechs Wochen über 10 000 Besucher strömen. Doch die wahre Geschichte der RAF scheint bis heute noch nicht vollständig  geschrieben – da muss mehr sein als eine pensionierte Terrorgruppe mit 40 oder 50 Anhängern.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • Jörn-Michael Wunderlich
    am 04.08.2013
    Antworten
    Danke, dass Sie die Wahrheit schreiben.
    Als Privatperson werden die Profile sofort gelöscht seitens unserer konservativen Zensoren v.a. im Bundestagswahlkampf ist die Wahrheit so unbeqem, dass man lieber gesetzeswidrig handelt. Ironischerweise kommen viele der neuen Zensoren aus alteingesessenen…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!