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Der Architekt der Macht

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Christoph Ingenhoven, der Architekt des Stuttgarter Tiefbahnhofs, zog im "Spiegel"-Interview über eine "lautstarke Minderheit von alten Menschen" her, die die Zukunft aller bestimmen wolle. Das Stuttgarter Polit-Urgestein Peter Conradi rechnet im Kontext-Kommentar mit seinem Architektenkollegen ab.

Ein alter Architektenwitz: Ein Architekt trifft einen anderen Architekten mit Baby im Kinderwagen, schaut in den Kinderwagen und sagt: "Das hätte ich besser gemacht, Herr Kollege!" Für diese Geringschätzung von Kollegen gibt es in Stuttgart zwei schlagende Beispiele: 1959 wurde das Kaufhaus Schocken (1926–1928) des Architekten Erich Mendelsohn, ein herausragendes Beispiel für das neue Bauen der 20er-Jahre, abgerissen (u. a. für eine Straßenerweiterung!), und der Architekt Egon Eiermann, ein bekannter, guter Architekt der Nachkriegszeit, gab sich dafür her, anstelle des abgerissenen Kaufhauses ein langweiliges Horten-Kaufhaus zu planen und zu bauen. 2011/2012 wurden die Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs, ein weltberühmter Bahnhofsbau (1914–1928) von Paul Bonatz und Friedrich Scholer abgerissen, damit der Bau durch eine langweilige, unterirdische Durchgangsstation nach dem Entwurf von Christoph Ingenhoven, ebenfalls ein erfolgreicher, guter Architekt, ersetzt werden kann. Wenn es um den eigenen Auftrag geht, zeigen einige der sogenannten Star-Archi­tekten wenig Respekt für die Arbeit ihrer Kollegen. Zu dem Vorwurf, dass hier ein Baudenkmal der Architekturmoderne zerstört wird, sagt Christoph Ingenhoven im "Spiegel" nichts. Offensichtlich versteht er die Bedeutung des Bonatz-Bahnhofs für die Identität Stuttgarts nicht.

Der "Spiegel" versucht, in dem Interview "Versaute Verhältnisse" ("Spiegel" 24/2013, 10. Juni 2013, S. 118 ff) mit drei renommierten Architekten herauszufinden, warum bei einigen Großprojekten in Deutsch­land derzeit so viel schiefgeht und welche Verantwortung die Architekten dafür tragen. Gewiss sind die Architekten nicht allein daran schuld, dass es bei vielen Großprojekten in Deutschland nicht gut läuft. Das "Spiegel"-Interview mit Christoph Ingenhoven zum Bahnprojekt Stuttgart 21, mit Meinhard von Gerkan zum Flughafen Berlin-Brandenburg und mit Pierre de Meuron zur Hamburger Elbphilharmonie sollte eine qualifizierte Diskussion anstoßen: Wer ist bei Großprojekten für was verantwortlich? Die Bauherren, die Politiker, die Wettbewerbspreisrichter, die Bauträger, die Bauverwaltungen, die planenden Architekten und Ingenieure, die Bauunternehmen? Die Verhältnisse auf dem Bau sind tatsächlich schlimm, unter anderem, weil die EU-Verordnungen und -Richtlinien bei öffentlichen Bauprojekten den Bauherren strangulieren. Nicht zu vergessen die zunehmende Beteiligung von Sub- und Subsubunternehmern mit ihren negativen Folgen für die Bauqualität und die Baukosten und das Nachtragsunwesen. Die Diskussion über die Verantwortlichkeiten bei Großprojekten ist überfällig, und sie darf sich nicht auf die Architekten beschränken.

Ich beschränke mich hier auf die Aussagen des Architekten Christoph Ingenhoven zu Stuttgart 21 (S 21) im "Spiegel". Dass ein Architekt seinen Entwurf verteidigt und dass er ihn bauen will, ist verständlich, aber Ingenhoven argumentiert im "Spiegel"-Interview einseitig. Er ist nur für die Planung des neuen unterirdischen Durchgangsbahnhofs verantwortlich, nicht für alle anderen Probleme von S 21, doch er will offensichtlich diese Probleme und die Kritik an diesem Projekt nicht zur Kenntnis nehmen.

Ingenhoven: Die Kosten für das Projekt Stuttgart 21 (S 21 – dazu zählen der unterirdische Durchgangsbahnhof, 66 km Tunnels mit mehrfacher Unterfahrung des Neckars, der neue Flughafenbahnhof usw.) seien von 2,5 auf "5, vielleicht 6 Milliarden" Euro gestiegen. Vielleicht? Darf's auch etwas mehr sein? Und wenn ja, wie viel? Inzwischen nennt die DB Kosten von 6,8 Mrd Euro. Das sind allerdings Kostenberechnungen während der Planung. Die gewaltigen Kostensteigerungen für die Elbphilharmonie und den Berliner Flughafen sind jedoch nicht während der Planung, sondern während der Bauzeit entstanden, teils durch überhastete Planung und durch Änderungswünsche der Bauherren, durch Inkompetenz von Planern und durch Insolvenzen von Unternehmen, gelegentlich auch durch nicht vorhersehbare Probleme im Bauablauf. "Vor der Hacke is et dunkel", heißt es im Bergbau, und beim Bau der 66 km Tunnels in Stuttgart sind weitere drastische Kostenstei­gerungen zu erwarten – unabhängige Fachleute sagen bereits jetzt Gesamtkosten von mehr als zehn Milliarden Euro voraus. Bezeichnend ist, dass die Bundesregierung, die als Eigentümerin der DB AG fungiert, die Wirtschaftlichkeitsberechnungen für S 21 unter Verschluss hält. Bei 4,55 Mrd Euro sollte das Projekt "gerade noch wirtschaftlich sein", so Bahnchef Grube vor zwei Jahren; jetzt ist es mit Sicherheit nicht mehr wirtschaftlich.

Ingenhoven hält die Entwicklung der Kostenberechnungen des Gesamtprojekts im Vergleich mit den in 25 Jahren gestiegenen Kosten eines VW Golf für "vertretbar", ja "akzeptabel". Allerdings ist der VW Golf heute technisch weit besser und leistungsfähiger als der VW Golf der 80er-Jahre, während der geplante Ingenhoven-Tief­bahnhof nicht einmal das leisten kann, was der alte Bonatz-Bahnhof heute leistet. Der Öffentlichkeit wurde versprochen, der geplante Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen werde doppelt so viel Züge verkraften wie der in Deutschland zweitpünktlichste Kopfbahnhof mit seinen 17 Gleisen! Inzwischen ist erwiesen, dass die DB bei ihrem "Stresstest" ihre eigenen Richtlinien missachtet und die Öffentlichkeit mit der Behauptung, der neuen Bahnhof leiste 49 Züge in der Spitzenstunde, getäuscht hat. Der Architekt Ingenhoven weiß, dass die DB – beispielsweise bei den geplanten Bahnsteig- und Treppenbreiten – nur 32 Züge in der Spitzenstunde annimmt, während unser jetziger Bahnhof im derzeitigen Fahrplan 38 Züge verkraftet und mit einigen Modernisierungsmaßnahmen über 50 Züge leisten könnte. S 21 bedeutet deshalb tatsächlich einen Rückbau der Leistungsfähigkeit des Bahnknotens Stuttgart, und die DB nimmt den wiederholten öffentlichen Vorwurf unwidersprochen hin, dass es sich bei S 21 um den "größten Betrugsfall in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands" handelt. Ingenhoven versteht offensichtlich nicht, dass viele Stuttgarter gegen den geplanten Ersatz eines gut funktionierenden Hauptbahnhofs durch einen teuren neuen Tiefbahnhof mit geringerer Leistungsfähigkeit protestieren.

Stuttgart komme mit dem geplanten unterirdischen Bahnhof "wieder auf die Landkarte Europas in ein funktionierendes Hochgeschwindigkeitsnetz", sagt Ingenhoven. Das ist nun wirklich Unsinn, denn Stuttgart ist längst mit dem ICE und TGV mit Paris, Köln, Frankfurt/Main und München verbunden und wird nicht nur in Europa als starker Wirtschafts- und Entwicklungsstandort wahrgenommen. 

Ingenhoven behauptet, eine "Minderheit" und der "Ehrgeiz einzelner Grüner" habe dafür gesorgt, dass S 21 zehn Jahre länger dauert und deutlich teurer wird. Er verschweigt, dass der DB-Chef Ludewig das Projekt zwei Jahre ruhen ließ, weil er es für unwirtschaftlich hielt. 18 Jahre nach dem Beginn der Planung sollten genug sein für eine sorgfältige Planung, doch die DB kann bis heute keine genehmigungsfähige Planung für den Flughafenanschluss vorlegen, und drei von sieben Planfeststellungsabschnitten für S 21 sind bislang nicht genehmigt. Ingenhovens Tiefbahnhofprojekt kann bis heute bei Bränden die Rettung von Alten, Behinderten und Menschen mit Kindern ebenso wenig gewährleisten wie die von ihm (zu Recht) kritisierten ungenügenden Brandschutzpläne für den Berliner Flughafen. Der Hinweis auf die verschärften Brandschutzvorschriften geht fehl: Jede Planung muss den zur Zeit der Ausführung geltenden Brandschutzvorschriften entsprechen. Nicht genehmigt sind bislang übrigens auch das Grundwassermanagement und die Umleitung der zentralen Stuttgarter Abwasserleitungen unter dem geplanten Tiefbahnhof. Sind daran die Projektgegner schuld?

Selbst Befürworter von S 21 beklagen hinter vorgehaltener Hand die fehlende Planungskompetenz und die offenkundigen Planungsfehler der DB, doch Ingenhoven macht für all das eine Minderheit verantwortlich. Ob die Kritiker des Projekts, darunter sind anerkannte Ingenieure, Geologen, Bahnfachleute, Architekten und Juristen, recht haben, ist nicht eine Frage von Mehrheit oder Minderheit. Die Bundesregierung, die DB als bundeseigenes Unternehmen und die beteiligten Architekten und Ingenieure sind verpflichtet, die kritischen Einwände sachlich und unvoreingenommen zu prüfen und mögliche Schaden für das Land und die Bahn abzuwenden, bevor das Projekt gebaut wird. Schwerer als der materielle Schaden, der für den Bund, das Land, die Stadt und die DB bereits entstanden ist, wiegen der Vertrauensverlust der Politik, der öffentlichen Verwaltung und der Justiz, leider auch der Architekten und Ingenieure durch das Planungsdesaster der vergangenen Jahre. Was haben die Architekten und Ingenieure für S 21 getan, den materiellen und immateriellen Schaden für ihre Bauherrn abzuwenden?

"Eine lautstarke Minderheit von alten Menschen" mache "Stimmung gegen das Projekt", jammert Ingenhoven, und es gehe nicht an, dass "20 Prozent der Bevölkerung über die Zukunft aller bestimmen". Ein seltsames Demokratieverständnis. Dass Baden-Württemberg den ersten grünen Ministerpräsidenten eines Lands, dass Stuttgart den ersten grünen Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt hat, hat auch etwas mit dem größenwahnsinnigen Projekt Stuttgart 21 zu tun, und die Architekten und Ingenieure sollten nicht unbequeme Minderheiten und alte Menschen beschimpfen, sondern sich darum, bemühen die Bürgerinnen und Bürger redlich und wahrheitsgemäß über ihre Planungen zu unterrichten und davon zu überzeugen, dass Kritik ernst genommen wird.

Bislang kümmern die Fakten und Zahlen, die baulichen Risiken, die noch ausstehenden Planfeststellungen, die gewaltigen Kostenrisiken die Verantwortlichen, und dazu gehört Christoph Ingenhoven, nicht. Stuttgart 21 wird weiter gebaut. Die Führung der Deutschen Bahn AG will vereint mit der Bundesregierung, mit CDU/CSU, FDP und SPD, mit den beauftragten Architekten und Ingenieuren, mit beflissenen Staatsanwälten und Richtern und mit der Unterstützung aus der Wirtschaft, vor allem aus der Bau- und Finanzwirtschaft zeigen, wer "Herr im Haus" ist. Es geht nicht mehr um Argumente, es geht um die Machtfrage, und da sind Architekten wie Christoph Ingenhoven leider auf der Seite der Macht, denn von dort bekommen sie ihre Aufträge.

 

 

Peter Conradi (*1932) studierte in Stuttgart Architektur und war bis 1972 Leiter des Staatlichen Hochbauamts I in Stuttgart. 1972 bis 1998 war er SPD-Bundestagabgeordneter, 1999 bis 2004 Präsident der Bundesarchitektenkammer, 1999 bis 2009 Mitglied im ehrenamtlich beratenden Städtebauausschuss der Stadt Stuttgart. Seit 1994 hat sich Conradi gegen das Projekt Stuttgart 21 und für die Erhaltung und Erweiterung des Stuttgarter Hauptbahnhofs eingesetzt, unter anderem 2010 in der Vermittlungsrunde ("Faktencheck") unter Heiner Geißler.


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5 Kommentare verfügbar

  • Sabine Reichert
    am 22.06.2013
    Antworten
    Kleine Korrektur des ansonsten großartigen Artikels: Nicht drei, sondern zwei der sieben Abschnitte von Stuttgart 21 sind noch nicht planfestgestellt: PFA 1.3 (Flughafenbereich) und PFA 1.6b (Abstellbahnhof Untertürkheim). Für ersteren hat die Bahn gerade mal wieder Pläne zur Eröffnung eines…
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