KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Equal Pay Day: nichtig

Equal Pay Day: nichtig
|

Datum:

Die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen ist viel geringer als behauptet und lenkt von der sozialen Ungleichheit ab. Ein Kommentar.

Illustration: Jumi Jami Illustration Katharina Bretsch

Schon erstaunlich, wie hartnäckig sich manche Irrtümer halten. Vor allem, wenn Interessen damit verbunden sind.

Frauen würden 22 Prozent weniger verdienen als Männer, heißt es stets auf Neue, "Gender Pay Gap" genannt, Geschlechter-Einkommens-Lücke. Und um diese angebliche Lohnlücke zwischen den Geschlechtern zu symbolisieren, wurde der 21. März zum sogenannten Equal Pay Day ausgerufen. Will heißen: Bis zum 21. März des jeweils folgenden Jahres müssten Frauen arbeiten, um auf den Verdienst von Männern zu kommen. Großer Irrtum. Falsche Zahlen. Aber mit Kalkül. 

Die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern liegt bei vergleichbaren Faktoren – gleiche Ausbildung, Qualifikation, Lebens- und Berufsalter, Arbeitszeit und -volumen – nicht bei 22 Prozent, sondern bei sieben Prozent. Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden 19. 3. 2012. Es gibt sogar eine Zahl, die noch niedriger ist, nämlich zwei Prozent. Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Im Gegensatz zum Statistikbundesamt bezieht die Studie des IW Erwerbsauszeiten von Frauen zum Beispiel aufgrund von Kindererziehung in die Berechnung mit ein. Das IW ist unternehmernah, benutzt aber Daten seines Quasi-Gegenspielers, des gewerkschaftsnahen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), aus dessen sozioökonomischem Panel, einer Art permanenten soziologisch-statistischer Befragung. 

Nicht 22, sondern sieben oder gar nur zwei Prozent Lohnunterschied. Wenn schon Gender Equal Pay Day, dann nicht der 21. März, sondern der 31. Januar oder auch nur der 7. Januar. 

Nehmen wir für die weitere Argumentation ruhig nur die sieben Prozent Lohndifferenz. Der viel beklagte Unterschied von 22 Prozent – Quelle ebenfalls das Statistische Bundesamt – meint das gesamte Einkommen, differenziert nach Geschlecht. Alle Männer zusammen sollen demnach 22 Prozent mehr Geld haben als alle Frauen zusammen. Doch die Zahl ist nicht korrekt. Denn: Gemessen werden nur Betriebe in der Privatwirtschaft mit mindestens zehn Beschäftigten. Die nahezu gleichen Gehälter im öffentlichen Dienst werden nicht berücksichtigt. Und das Einkommen aus der Teilzeitarbeit vieler Frauen geht absolut und nicht – was korrekt wäre – relativ in die Rechnung ein. Schließlich fließen auch die Gehälter der Spitzenverdiener mit ein – und die sind in der Mehrzahl männlich: Unternehmer, Banker, Manager, Sportler. Ein etwas mutwilliges und tendenziöses Rechenwerk, das nebenbei die tatsächliche wirtschaftliche Lage der meisten Männer verfälscht. Statistisch werden alle Männer wohlhabender gemacht, faktisch sind sie es aber nicht. Viele Männer liegen unter dem Durchschnittswert. Man könnte auch sagen: "Männer verdienen weniger als Männer."

Statistische Durchschnittswerte verfälschen Realitäten. "Deutsche werden immer reicher", so wiederholte Schlagzeilen auch zum Jahresende 2012, und: "Trotz Eurokrise und niedriger Renditen ist das Vermögen weiter gewachsen". "Die Deutschen" reicher und vermögender? Das mag als statistischer Durchschnittswert stimmen, die wahre Einkommensverteilung, die auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich, wird dadurch aber vernebelt. Es wird sogar das Gegenteil suggeriert. Wenn die Reichen reicher werden und mehr Geld da ist, dann behauptet die Statistik, auch die Armen würden reicher. Dann gibt es plötzlich keine Armen mehr, und die soziale Frage hat sich erledigt. Nebenbei: Wo saugen die Wohlhabenden wohl das Mehrgeld ab? Zum Beispiel vom Staat über dessen Zinszahlungen oder auch aus Griechenland. 

Die angebliche Geschlechter-Gehalts-Differenz-Berechnung bewirkt dasselbe wie der Schleier der Statistik. Die Einkommensschere geht allgemein auseinander, unabhängig vom Geschlecht, bei Frauen wie bei Männern. Mit der reduzierten Männer-Frauen-Sicht wird aus einem allgemeinen Problem ein halbes gemacht – das von Frauen. Und selbst das wird noch minimiert. Tatsächlich sind jenseits des Geschlechterschemas die Einkommensunterschiede zwischen der großen Mehrheit und einer Minderheit sehr, sehr viel größer als sieben oder selbst als 22 Prozent. Nämlich 1000 Prozent oder 10 000. 800 Euro im Monat hier, 10 000 oder 50 000 da. Widersprüche sozialer Art, die nicht einmal mehr gesehen werden. Weil sie nicht gesehen werden sollen. Die "Frauen"-Sicht greift daneben – auch für die Frauen selber. Sie sollen sich offensichtlich mit einer Gehaltsanpassung um sieben oder meinetwegen 22 Prozent zufriedengeben und nicht auf die Idee kommen, etwa 1000 Prozent mehr zu verlangen. Doch eigentlich soll die Mehrheit der Menschen nicht mehr, sondern weniger bekommen. Ein jüngster Vorschlag zur Angleichung lautet deshalb gar, nicht die Frauengehälter anzuheben, sondern die Männergehälter auf das Frauenniveau abzusenken. Wobei schlauerweise offen gelassen wird, ob bei den unteren oder bei den oberen Gehältern. Die Frauenfrage im Dienst des Sozialabbaus.

Hinter der Geschlechterfrage verschanzt sich der Reichtum und versteckt sich die soziale Ungleichheit. Der Gender Pay Gap ist eine Falle. Eine Geschlechter-Falle – eine Gender Pay Trap sozusagen. Damit sie funktioniert, muss der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen künstlich höher beziffert werden, eben mit 22 Prozent, denn sieben Prozent taugen nicht zum Skandal. Doch den braucht man, um vom eigentlichen Skandal abzulenken.

21. März oder 31. Januar – falscher Equal Pay Day oder richtiger. Es geht sowieso um etwas anderes. Wirklich interessant wäre ein "sozialer" Equal Pay Day. Wie lange müssen die meisten Menschen in Deutschland arbeiten, um auf das Einkommen der Wohlhabenden und Reichen zu kommen? Um sozial gleich zu stehen? Kalendarisch lässt sich das gar nicht mehr abbilden. Dazwischen liegen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Und mitunter reicht nicht einmal ein ganzes Arbeitsleben aus. Jemand, der 25 000 Euro im Jahr verdient, hat nach 40 Berufsjahren eine Million Euro erwirtschaftet. Eine Summe, die all den prominenten Spitzenverdienern in Wirtschaft, Sport oder Medien vermutlich nur ein müdes Lächeln abringt. So unterschiedlich kann die Arbeitsleistung der Menschen gar nicht sein, um eine solche Differenz zu rechtfertigen. Doch das ist ein Tabu. Dann lieber Sandkastenspiele zwischen Frauen und Männern um sieben Prozent Lohnunterschied. Die Vermögenden danken es und mehren ihr Vermögen weiter.

 

Die Gegenposition lesen Sie hier: <link internal-link>Equal Pay Day: wichtig.

 


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 17.08.2020
    Antworten
    Diese Replik [1] auf den ZEIT-Artikel „Genderforschung: Schlecht, schlechter, Geschlecht“ vom Journalist Harald Martenstein (StZ von 1988 – 1997) fiel mir auf, da von ihm heute über politische Reife im Tagesspiegel+ dies geschrieben wurde [2].

    Denn Reife, Kind, wenn Du das wirklich meinst,
    Hat…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!