KONTEXT:Wochenzeitung
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Gebrochenes Wort gilt

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Stuttgart 21 wird gebaut. Zum wievielten Mal eigentlich wurde das jetzt beschlossen? Endgültig ist dabei schon immer gar nichts, wie unser Blick in die Projekt-Historie zeigt.

Anstoßen auf eine tiefergelegte Zukunft: v. l. n. r. der Stuttgarter OB Manfred Rommel, Verkehrsminister Hermann Schaufler, Bahnchef Heinz Dürr, Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann, Ministerpräsident Erwin Teufel 1995. Foto: Martin Storz

Der Aufsichtsrat hat gesprochen, die politischen Paten applaudieren, die Profiteure sind zufrieden. Wir bauen, egal, was es kostet, welche Risiken lauern, was Rechnungshof und Gerichte noch einwenden. Nun also Augen zu und durch beim angeblich bestgeplanten und bestkalkulierten Projekt aller Zeiten der Bahn AG? Die Hoffnung auf ein Ende mit Schrecken bei Stuttgart 21 erneut – und womöglich endgültig – zerstoben? Doch gemach: Die Geschichte dieses Projekts lässt äußerste Zurückhaltung mit Prognosen angeraten sein. 

Gewiss, wenn der oberste Kassenwart der Nation plötzlich Milliarden kleinredet, wenn die Kanzlerin einen Bahnhof zur Schicksalsfrage der Nation hochstilisiert, will das was heißen. Warum hätten bei so viel Protektion von höchster Stelle der Exekutive jene plötzlich klein beigeben und der Wahrheit die Ehre geben sollen, die über Jahre Fakten ignoriert, Risiken weggewischt haben? Mehrmals drohte dem Vorhaben der Offenbarungseid, als Planungs- und Verfahrensmängel zutage traten, Prämissen nicht erfüllt, Prüfsteine verfehlt, Etappenziele in Form erforderlicher Genehmigungen verpasst wurden. Doch was geschah? Die Defizite wurden bestritten, die Dementiermühlen in Gang gesetzt, bestenfalls Nachbesserungen in Aussicht gestellt.

Aus Schotter Nuggets machen

So auch diesmal. Mit dem Beschluss des Aufsichtsrats der Bahn im Rücken warfen sich die Zahlenspieler in die Brust: Bahnchef Grube, eben noch auf Tauchstation, kündigte flugs Klagen gegen die Projektpartner Land und Stadt an, Verkehrsminister Ramsauer gar drohte mit höheren Bahnpreisen, sollten die Gegner nicht schnurstracks zu Kreuze kriechen. Und die politischen Hilfstrupps, vom CDU-Landesvorsitzenden Strobl bis zum Hinterbänkler im Stuttgarter Gemeinderat, bliesen die Backen auf, als hätten sie nie etwas vom viel beschworenen Kostendeckel gehört und diesen vor der Volksabstimmung als K.-o.-Kriterium akzeptiert. 

Wie das? Die Befürworter fühlen sich in ihrer Wagenburg offenkundig sicher, hatte sich doch von Anfang an eine offenbar zu allem entschlossene Allianz der Goldschürfer gefunden, die Stuttgart 21 als Monopoly 21 begriff, bei dem die Verwandlung von Gleisflächen in teuren Baugrund – also von Schotter in pure Nuggets – satte Profite versprach. Da waren und sind die Immobilienentwickler, die eine Bonanza witterten, die Banker, die all das zu finanzieren gedachten, und die Politiker, die – wenn nicht auf ein Denkmal – so doch auf den Popanz eines vermeintlichen Alleinstellungsmerkmals spekulierten. Und schließlich die (örtlichen) Medien, die alles daransetzten, um am großen Reibach zu partizipieren. Die journalistische Prinzipien aufgaben und sich selbst Denkverbote auferlegten, indem sie der schlichten These folgten: Was gut ist für Stadt, Region, (Bundes-)Land, ist gut für uns.

Uns? Gut zuvorderst für den Geschäftsbetrieb Pressehaus Stuttgart mit seinen Untergliederungen. Die "Stuttgarter Zeitung" und die StZ Werbevermarktung, laut Jürgen Dannenmann, bis 2007 Multi-Geschäftsführer unter dem Dach der Südwestdeutschen Medien-Holding (SWMH), die "Lokomotive des Hauses", für die Schwesterzeitung "Stuttgarter Nachrichten", für das Medien-System-Haus (MSH) oder für Stuttgart Internet Regional (SIR), Letztere beide Dienstleister mit allerlei Geschäftsbeziehungen zu Stadt (Produktion und Druck "Amtsblatt") und Regionalverband (Betreuung Internetportal). Ein Projekt dieser Dimension würde Werbebedarf, Geschäftsbesorgungsaufträge und Sonderveröffentlichungen en masse nach sich ziehen. 

Im Pressehaus in Möhringen verständigten sich Geschäftsführung und Redaktionsleitungen auf die simple Formel: Wir sind dafür. Wie bei früherer Gelegenheit profilierte sich der damalige StN-Chefredakteur Jürgen Offenbach als publizistische Vorhut und Herold. Der Mann, der sich als Ruheständler mit seinem Einmannbüro "Offenbach Kommunikation" laut Eigenwerbung als "Lotse im magischen Dreieck Wirtschaft, Politik und Medien" versteht und als "Premiumkunden" Namen wie Stihl, Breuninger oder Fischer-Dübel vorweist, pries schon früh die Vorzüge der vom damaligen Bahnchef Heinz Dürr propagierten Idee, nicht nur der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg eine "neue City" zu bescheren, sondern die zugleich als Blaupause für an die 20 Tiefbahnhof-Projekte in München, Frankfurt, Leipzig und weiteren Städten der Republik dienen sollte. 

Dass solches nirgendwo sonst ernsthaft erwogen, sondern bereits in der Vorprüfung verworfen wurde, konnte weder Dürr noch Offenbach ins Grübeln bringen. Bis heutigen Tages, ausweislich der von Befürwortern aufgegebenen Unterstützeranzeigen. So weit das den Feuerbacher Industrie-Erben Dürr (Dürr AG) betrifft, ist irgendwie ein gewisses Verständnis aufzubringen, hat der vormalige Abwickler der Industrie-Ikone AEG doch beim Versuch, die staatseigene Bürgerbahn börsenfähig zu machen, kaum Akzente gesetzt, sieht man von der Einführung des Schönes-Wochenende-Tickets ab. Seine Zurückhaltung gegenüber der Jury, die seinerzeit der Jungdesignerin und Dürr-Tochter Nicole den ersten Preis im Wettbewerb um die neue Dienstkleidung des ICE-Personals zuerkannte, dürfte eher zur Fußnote gereichen. 

Publizistische Vorleistung für Unsinn aller Art

Doch zurück zum Pressehaus: Wann immer eine Chance winkte, sich als "Motor der Region" zu profilieren, ging Offenbach, Kapitän der "Fregatte" StN, in die Vollen und brachte den "Tanker" StZ (O-Ton Dannenmann) in Zugzwang. Diesmal sollte die publizistische Vorleistung von Erfolg gekrönt sein. Anders als bei OB Schusters Olympiabewerbung oder zuvor bei der Vision "Schwäbischer Louvre", die sich als Flops entpuppten. Letztere Idee hatte der Immobilienspekulant und selbst ernannte Musicalkönig Rolf Deyhle entwickelt. Auf der Suche nach einem repräsentativen Rahmen für seine zeitweilig dem Finanzministerium als Pfand für eine Bürgschaft des Landes angediente Kunstsammlung hatte er dafür in der ihm eigenen Bescheidenheit das komplette Neue Schloss ins Auge gefasst.

Bei einem abendlichen Tête-à-tête in Deyhles damaligem Domizil Totenbachmühle (die später zwangsversteigert wurde) konnte der von den StN zum "Milliardär" ernannte Unternehmer seinen Besucher Offenbach so sehr für seinen Plan entflammen, dass dieser dem eigenen Blatt eine Artikelserie mit der Parole "Kunst oder Beamte?" verordnete, die in einer Leserbefragung mit ebendieser suggestiven Fragestellung gipfelte. Doch trotz Flankenschutz der Landespolitiker Oettinger (damals CDU-Fraktionschef) und Döring (Wirtschaftsminister) endete die Aktion als Schlag ins Wasser. Der vom Land mit einem Wertgutachten vertraulich beauftragte Kunstsachverständige Freerk Valentien hatte den Marktwert der vom Sammler selbst mit "500 Millionen Mark oder mehr" taxierten Sammlung deutlich tiefer eingeschätzt. So fiel es Finanzminister Mayer-Vorfelder leicht, angesichts der Kosten für die Auslagerung zweier Ministerien und unumgänglicher Eingriffe in das hochrangige Baudenkmal den populistischen Vorstoß als Schnapsidee abzuwehren. 

Da eröffnete das als Gelddruckmaschine ausgegebene Projekt eines futuristischen Bahnknotens im Untergrund bei oberirdischem Flächenzuwachs mit Milliardenwert ganz andere Perspektiven und versprach Beifall vonseiten all jener, die Stadtentwicklung mit Wachstum, Geschossflächen und Kubikmetern umbauten Raumes gleichsetzen. Landesregierung, nahezu der komplette Landtag, Oberbürgermeister und die Mehrheit des Gemeinderats, Industrie- und Handelskammer, die Bauwirtschaft sowieso formierten sich, von den Multiplikatoren und den hiesigen Medien auf die Jahrhundertchance eingestimmt, zur großen Koalition der Befürworter. Die Chancen für Stadt und Land nahmen schier unermessliche Dimensionen an, Risiken wurden gering veranschlagt, später rundweg bestritten. Und die StZ zog nach.

Unmut am Baustellenzaun. Foto: Joachim E. Röttgers

Dass der Untergrund tatsächlich unkalkulierbare Risiken barg, dass der wegen der Mineralwasser führenden Schichten nur notdürftig zu verbuddelnde Querbahnhof, eine Art Maulwurfshügel mit acht Meter über Grund ragenden Glupschaugen, nur um den Preis einer Zerstörung des in Jahrhunderten gewachsenen und in Generationen stets nur behutsam veränderten Mittleren Schlossgartens zu haben sein würde, dämmerte erst spät, aber nicht weniger nachdrücklich. Die sich abzeichnende weitgehende Zerstörung des Baudenkmals Hauptbahnhof tat ein Übriges.

Und als den ersten schöngerechneten Kalkulationen Korrekturen folgten, die Kosten um den Preis der Sicherheit und Funktionalität des Bauwerks senken sollten, indem Wände von Tunnelröhren abgespeckt, Brandschutz für disponibel erklärt und der Ingenhoven-Entwurf um zwei auf acht Durchgangsgleise gekappt wurde, rechneten anerkannte Experten vor, dass die Leistungsfähigkeit des Milliardengrabs nicht etwa steigt, sondern abnimmt. Fast schon achselzuckend nahm die nun rasch wachsende Zahl der Skeptiker und Gegner das späte Eingeständnis der Bahnplaner auf, wonach die neue Trasse von Wendlingen nach Ulm, ihrerseits wegen vieler Tunnelkilometer für den Güterverkehr ausfällt. 

Durchhalteparolen und markige Worte statt Transparenz

Was also blieb von den Vorzügen der Magistrale Paris–Bratislava, später in "Das neue Herz Europas" umgetauft? Hiobsbotschaften, Mängelrügen bis hin zur Auflistung der 121 Risiken, mit denen sich Projektleiter Hany Azer im Frühjahr 2011 Knall auf Fall verabschiedete. Und schwieg, weil er sich sonst um seine Versorgungsbezüge geredet hätte. Ein Signal für den Bahnvorstand, nun endlich mit dem Versprechen größtmöglicher Transparenz ernst zu machen? Mitnichten. Schmallippig wurde ein Nachfolger aufs Planungsgleis gesetzt, und weiter ging's mit der bekannten Taktik: dementieren, abwimmeln, irgendwann ein Scheibchen Korrektur nachschieben. Und immer wieder Durchhalteparolen und markige Worte.

Wäre der Bahnchef der "ehrbare hanseatische Kaufmann", als der er sich beim Amtsantritt einzuschleimen beliebte, dann hätte er jetzt beim überfälligen Eingeständnis fehlender Milliarden nicht nur die volle Hose ein Stückle runtergelassen, sondern sich für sein Schmierenspiel entschuldigt – bei Gegnern, die er bei jeder Gelegenheit abkanzelte, und bei Unterstützern, deren Blauäugigkeit er systematisch missbraucht hat. Doch Grube blieb sich und seiner Auftraggeberin Merkel treu. Zum Dank wird in Berlin erwogen, den Bahnvorstand von Haftungsrisiken freizustellen. Der Finanzminister erklärte derweil ungerührt, was zuvor allenthalben bestritten worden war: nämlich, dass es sich bei Stuttgart 21 um ein politisches Projekt handle.

Die Kanzlerin selbst hatte die verräterische Devise ausgegeben: keine Ausstiegsdebatte vor dem Wahltag am 22. September. Es geht ihr um nicht weniger als um die "Zukunftsfähigkeit Deutschlands". Die sei gefährdet, wenn Stuttgart 21 scheitert, das sie als "Vorzeigeprojekt einer modernen, leistungsfähigen Industrienation" sieht. Und was ist dann wohl der Hauptstadtflughafen in Berlin? Vorerst keine nationale Katastrophe, weil dort zwei Sündenböcke mit rotem Parteibuch am Pranger stehen?

Doch zurück nach Stuttgart: War der Finanzierungsvertrag von 2009 ein Muster ohne Wert? Die Prämissen der Volksabstimmung völlig unverbindlich? Was sind die Aussagen zum Kostendeckel noch wert? Was die Bekräftigungen der Bahnchefs zu Kostentreue, Transparenz, Leistungsfähigkeit? Welche Relevanz haben Prüfvermerke des Bundesrechnungshofs? Dass die Kanzlerin selbst von der Bahn wiederholt belastbare Zahlen verlangt hat, ihren Pressesprecher erklären ließ, sie verbitte sich weitere Kostenüberraschungen? Offenkundig Beruhigungspillen fürs Volk. Alles null und nichtig, disponibel je nach politischer Interessenlage. Wohin das führt, zeigt die Entwicklung in Italien unter Berlusconi. 

Wir lernen daraus: Wenn nationale Interessen (und die Glaubwürdigkeit einer Kanzlerin, die Schuldenmachern in der EU die Leviten liest) auf dem Spiel stehen, sind Lügen, Ausflüchte und Nebelkerzen erlaubt. Die Lehre, die sich daraus ableitet, liegt auf der Hand. Aussagen zu Stuttgart 21, vom örtlichen Projektsprecher über den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg bis hinauf zur Chefin der Deutschland AG, stehen fortan unter Generalvorbehalt: 

ES GILT DAS GEBROCHENE WORT. 

So aber lassen mündige Bürger nicht mit sich umspringen. Deshalb gilt jetzt erst recht: Protest, ja Widerstand ist oberste Bürgerpflicht. Ihr könnt uns belügen. Aber ihr könnt nicht von uns verlangen, dass wir eure Lügen glauben. Und am Ende auch noch dafür bezahlen. Obrigkeitsstaat und politische Willkür waren gestern. Heute gilt: Wir sind das Volk, und ihr seid unsere Vertreter, aber mit geliehener, widerruflicher Legitimation.

 

Bruno Bienzle, 70, ist gebürtiger Stuttgarter und kennt die Stadt wie wenige andere. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2007 war er ein Vierteljahrhundert lang Chef des Lokalteils der "Stuttgarter Nachrichten".

 


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4 Kommentare verfügbar

  • adabei
    am 15.03.2013
    Antworten
    Herzlichen Dank für diesen Beitrag, der so etwas wie die Quintessenz der mafiösen Mechanismen einer selbstherrlichen Amigo-Seilschaft ist, für die so etwas wie Transparenz ein Fremdwort ist.
    Dennoch kann ich nicht umhin, Wasser in den Wein zu kippen: Wirft es nicht ein bezeichnendes Licht auf…
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