KONTEXT:Wochenzeitung
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"Bitte recht freundlich!"

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Tag der offenen Tür im Rathaus? Jemine. Klingt mindestens dunkelgrau bis irre langweilig, nach meterdicker Staubschicht auf Aktenschränken und Wollmäusen in Amtsstuben-Ecken. War's aber nicht am vergangenen Samstag – weder Mäuse noch Langeweile, kein Fitzelchen Grau. Eine Schaubühne über ein Stück politischer Bildung für die Landeshauptstadt.

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Herr Blumenschein ist so etwas wie der Giovanni Falcone von Stuttgart. Der Mafiajäger. Er steht im vierten Stock des Stuttgarter Rathauses an einem Bistrotisch. Auf einem Fernsehbildschirm hinter Manfred Blumenschein wechselt gerade der Begriff "Beratung" zu "Korruptionsprävention". Blumenschein ist der Chef des Rechnungsprüfungsamts, 50 Mitarbeiter, Aufsicht über 18 000 städtische Angestellte und Einblick in Millionen von Buchungen jedes Jahr. Er ist keinem unterstellt, unbestechlich und ständig auf der Suche nach finstren kleinen Geheimnissen, düsteren Absprachen und der alltäglichen Gier. Einmal seien sie einer Angestellten auf die Schliche gekommen, die jahrelang winzige Beträge auf das eigene Konto gebucht hatte. "Zum Schluss waren es mehr als 200 000 Euro!" Er lächelt verschmitzt. An ihm kommt keiner so einfach vorbei.

Blumenschein steht kaum in der Öffentlichkeit. Aber er ist eines dieser kleinen, unerlässlichen Rädchen, die den Motor von Stuttgart am Laufen halten. Und am Samstag, zum Tag der offenen Tür im Rathaus, lupft die Stadt die Motorhaube.

Das Stadtmessungsamt im zweiten Stock hat ganz Stuttgart in Dutzende Puzzlestücke zerlegt, und wer mag, kann es wieder zusammensetzen. Das Ordnungsamt zeigt Fotos vom "Tatort"-Dreh, beim Weltcafé gibt's Linzer Torte (fair) und Käsekuchen (bio). Der "Bürgerservice Veranstaltungen" gibt einen Workshop zur Genehmigungspraxis von Events unter freiem Himmel, und in Raum 120, erster Stock, rechts den Gang runter, haben die Damen vom Referat Soziales, Jugend und Gesundheit ein Zimmer einer Flüchtlingsunterkunft nachgebaut – original. Drei Stockbetten mit Blümchenbettwäsche, drei kleine Schränke, ein Tisch, drei Gedecke – 4,5 Quadratmeter pro Person. "Übernachtet hier einer?", fragt eine Frau im Pelz und scheint es ernst zu meinen. Ne, sagt eine andere freundlich, hier sei normalerweise der Platz der Sekretärin von Bürgermeisterin Isabel Fezer. Drei Leben in einem Vorzimmer. Zwei Stockwerke höher drückt eine junge Ärztin vom Klinikum Stuttgart dem Teddy eines blondbezopften Mädchens ein Stethoskop auf die plüschige Brust. "Einatmen ... ausatmen. Ojeoje, der ist erkältet. Kein Wunder bei dem Wetter." 

Vom Foyer bis aufs Dach ist das Rathaus gestopft voll mit Spielen, Wettbewerben, Infoflyern. Beim Tiefbauamt gibt's neben einer Kläranlage in klein sogar überdimensionierte Frucht-Gummibären. "Abwasserbärchen", sagt eine junge Frau am Stand und verspeist eine Bärenhälfte. Im Hintergrund schwebt ein Festgezurrter auf einer orangeroten Bahre an der Fensterfront vorbei – Höhenrettung der Feuerwehr.

Die Idee zur offenen Rathaus-Tür hatte OB Fritz Kuhn im Sommer letztes Jahr. Weil Stuttgart bisher ja nicht mal ein Bürgerfest hatte. Fazit: 8000 neugierige Besucher und Dutzende sichtbar stolze städtische Angestellte. Allesamt bester Laune.

Neben Reinhold Will im Trauzimmer steht ein Kamerastativ, ein Drucker auf einem Tisch, vier Meter weiter ein Pappaufsteller. Braut und Bräutigam mit zwei ovalen Löchern dort, wo die Gesichter sein sollten. Zwei grinsende Köpfe, eine Frau und ein Mann, schieben sich in die Ausschnitte. "Recht freundlich!", ruft Herr Will, "knips", macht seine Kamera, "krpfkrpf" der Drucker – "bitte schön", Will überreicht in grauem Sakko, mit geradem Rücken das taufrische Hochzeitsfoto: "Ein sehr hübsches Paar." 60 Pappkameraden hat er heute getraut. 2014 waren es fast 1000 echte Ehen.

Die Gemeinderats-Prominenz gibt sich derweil im Paternoster ein Stelldichein mit dem "Normalbürger": Speeddating, zwei Minuten waschechte Politik, jede Partei, eine Aufzugkabine. Zwei Schächte gibt es, links geht's hoch und rechts wieder runter. Es ist ein bisschen wie Kino. Der Haarschopf von Anna Deparnay-Grunenberg, Grüne, erscheint in Stockwerk drei, wird zu einem Gesicht, mit Hals, mit Brust, mit Beinen, neben ihr steht ein junger Mann als Mitfahrer. "... sehr wichtig, dass wir die Ausschreibung machen ...", sagt sie, dann verschwindet der Kopf schon wieder in Stockwerk vier, während im rechten Aufzugschacht die Beine von Alexander Kotz, CDU, auftauchen, dann der Rumpf, der Kopf. Sein Gast: eine junge Frau mit Jutetasche "... Blick bei uns reinwerfen ...", sagt Kotz gerade noch und verschwindet rechts runter schon wieder, links nach oben fährt Hans-Peter Ehrlich, SPD: "... wenn Sie hier aussteigen, können Sie durchs Panoramafenster schauen ...", sagt er zu einer Dame mit Schal und ist wieder weg. Rechts nach unten Matthias Oechsner, FDP, links nach oben Heinrich Fiechtner, AfD, momentan eher ungelitten sowohl im Rathaus als auch in der eigenen Partei. Erst vor Kurzem hatte er OB Fritz Kuhn als "miesen faschistoid-populistischen Scharfmacher" bezeichnet und den Koran mit Hitlers "Mein Kampf" verglichen. Momentan steht er in seiner Paternoster-Kabine neben einer Mutter mit Kind in quietschgrüner Wollmütze. Dem Kind ist sichtlich unwohl. "Brauchst keine Angst zu haben", sagt Fiechtner mit öligem Grinsen, "Ich bin ja da."

Um 16 Uhr fegen zwei Reinigungsdamen die Reste vom Fest zusammen. Kein bisschen Staub. Und keine einzige Wollmaus.


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