KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Der Fall Joe Viertel

Der Fall Joe Viertel
|

Datum:

Ursula Viertel ist Aktivistin gegen Stuttgart 21, ihr Mann Heinz-Joachim war Polizist. Bis er 2012 selbst in den Fokus der Ermittlungen gegen die S-21-Gegner geriet. Die Polizei hat das Hab und Gut des Paars durchwühlt. Seitdem ist im Leben der Viertels nichts mehr, wie es einmal war. Ein beunruhigendes Justizkapitel am Rande des Bauprojekts Stuttgart 21.

Polizist sein, das hieß für Heinz-Joachim Viertel: "Für Gerechtigkeit sorgen. Menschen schützen. Im Kleinen mit Sorge dafür tragen, dass es den Menschen gut geht und der Rechtsstaat erhalten bleibt."

Viertel (61), graue Stehhaare, sitzt mit seiner Frau Ursula (57), klein und quirlig, am Esstisch, rote Lacktischdecke. Er sagt: "Früher habe ich gedacht, ich bin stark, mich kann nichts umhauen, alle anderen sind Weicheier." Er blättert er in einem Ordner voller Unterlagen zum Fall Joe Viertel. Einem Fall voller Ungereimtheiten. Seinem Fall. Vom stolzen Polizeibeamten zum Pensionär in Psychotherapie.

Heinz-Joachim Viertel war von der Staatsanwaltschaft verdächtigt worden, unter Verschluss gehaltene Polizeidokumente weitergegeben zu haben. Geheimnisverrat. Heinz-Joachim Viertel spricht von haltlosen Vorwürfen, die ihn seinen Job und seine Gesundheit gekostet haben.

Heinz-Joachim Viertel, Polizist seit 1982, und seine Frau haben nach Feierabend eine klare Arbeitsteilung: Sie macht Protest, er den Haushalt. Er kümmert sich vor allem um die drei Hunde. Ursula Viertel ist eine Aktivistin, die sich vor zugespitzten Aussagen nicht fürchtet. Sie hat beim ersten Bürgertribunal 2011 den ehemaligen Chef des Landeskriminalamts (LKA) und damit Vorgesetzten ihres Mannes angegriffen, Dieter Schneider. Heinz-Joachim Viertel sagt: "Das war politisch unerwünscht, das wussten wir." Er habe seine Frau agieren lassen. Auch Viertel bezeichnet sich als Projektgegner, sagt, er habe aber nur selten mitdemonstriert.

Seine Kollegen haben nur gelacht, sagt Viertel

Der 10. Oktober 2012 wird zum Schicksalstag in der Geschichte der Viertels. Ein Mittwoch. Viertel wird am Morgen von seinem Vorgesetzten ins Büro gerufen. Sein Abteilungsleiter erwartet ihn mit einem Staatsanwalt und vier Kollegen. Viertel wird ein Durchsuchungsbeschluss für sein Haus vorgelegt.

Der Vorwurf: Viertel werde verdächtigt, zwei aus Sicht der Polizei hochsensible Dokumente – den Rahmenbefehl des Innenministeriums für Einsatzmaßnahmen im Zusammenhang mit S 21 und ein Gefährdungslagebild - an Dieter Reicherter weitergegeben zu haben. Reicherter war Vorsitzender Richter am Landgericht und Staatsanwalt in Stuttgart, heute ist er prominenter und scharfer Kritiker des Bahnprojekts Stuttgart 21 und des Umgangs der Justiz damit. Im Juni 2012 haben die Staatsanwaltschaft Stuttgart und Polizeikräfte das Haus von Reicherter durchsucht. Gut drei Monate zuvor hatten die Ermittler entdeckt, dass Viertel und Reicherter Mailkontakt hatten. Als Mitarbeiter des Staatsschutzes habe Viertel Zugriff auf das Gefährdungslagebild gehabt, behauptet die Staatsanwaltschaft. Man vermute, dass Viertel als S-21-Gegner bereit gewesen sein muss, die Dokumente an Reicherter weiterzugeben.

Viertel versucht die Vorwürfe noch im Büro seines Chefs zu entkräften. Reicherter hatte im Februar 2012 öffentlich aus dem Rahmenbefehl zitiert – damals sei er noch gar nicht Mitarbeiter des Staatsschutzes gewesen, sondern beim LKA im Bereich organisierte Kriminalität an einem anderen Standort tätig. Mit Reicherter, einem Bekannten seiner Frau, habe er nur vier E-Mails ausgetauscht: Zweimal habe er Fotos im Auftrag seiner Frau an Reicherter verschickt, ein drittes Mal habe er Reicherter bei Computerproblemen beraten, beim vierten Mal sei es um die Berufsaussichten von Reicherters Tochter gegangen.

Der Staatsanwalt, sein Chef, die Kollegen "haben nur gelacht", sagt Viertel heute. Damals bleibt ihm keine Wahl. Er muss mit dem Durchsuchungskommando die knappe halbe Stunde rausfahren, durch die Weinberge und Wälder hinauf zu seinem Haus im Stuttgarter Umland.

Sogar die Unterwäsche seiner Frau wird durchwühlt

Das Haus der Viertels liegt einsam an einem sanften Hügel. Unterhalb blühen Gladiolen auf einem Blumenfeld zum Selberschneiden. An der Landstraße, die daran vorbeiführt, steht ein Bushäuschen aus dunklem Holz. Viermal am Tag fährt hier ein Bus. Wenn nicht gerade Ferien sind. Am Gartentor bellen die drei riesigen Hunde.

Ursula Viertel ist schon da, und weitere Polizisten. Im Haus beginnt die Suche nach Beweisen. "Die haben sogar die Schublade mit meiner Unterwäsche durchwühlt", erinnert sich Ursula Viertel. Sie ist empört, dass vor allem ihr persönliches Büro durchsucht wird, ihr Laptop kopiert wird. Nach knapp fünf Stunden rückt das Kommando mit zwei Kisten voller Dokumente ab.

Nach dem Tag der Durchsuchung arbeitet Heinz-Joachim Viertel nie wieder als Polizist. Er wird krankgeschrieben. In der Erinnerung an das Gefühl nach der Durchsuchung sagt er: "Der fehlende rechtliche Hintergrund und dass man das Recht so verdreht, das hat mich dermaßen umgehauen. Ich war zu nichts mehr zu gebrauchen." Er schließt sich zu Hause ein.

Wenn unten am Kreisverkehr, den man durch das breite Wohnzimmerfenster sieht, ein Polizeiauto fuhr, sei ihm schon mulmig zumute geworden. Wenn das Telefon klingelte, habe sein Puls mit 200 Schlägen gehämmert. "Das Verfahren versetzt dich in Panik, du erwartest überall Ungerechtigkeiten." Er steckte das Telefon aus. Viertels Nervenkostüm war dünn geworden.

Warum die Durchsuchung trotz flüchtiger Verdachtsmomente? Darüber können die Viertels nur spekulieren. Heinz-Joachim Viertel ist von zweierlei überzeugt: Man habe ihn aus der Polizei raushaben wollen. "Ich war ein Widerspruchsbeamter." Das sei für seine Vorgesetzten oft unangenehm gewesen. Er habe in Dienstbesprechungen auf Ermittlungsfehler hingewiesen. Dafür sei er von seinen Vorgesetzten zunächst gelobt und unterstützt worden, irgendwann aber geschnitten und ausgegrenzt.

Viertel sagt, seine Akten seien manipuliert worden

Er lässt sich 2010 und 2011 jeweils länger krankschreiben, weil ihn die Situation, die er damals beginnt als Mobbing zu bezeichnen, belastet. Er glaubt, dass es für die Ermittler ein gefundenes Fressen war, dass sie später auf Reicherters Rechner eine Spur zu ihm fanden, dem sie den Geheimnisverrat anhängen und ihn so aus der Polizei drängen können.

Bei Reicherter sei auch E-Mail-Korrespondenz mit zwei weiteren Polizisten gefunden worden, erzählt Viertel. Bei ihnen wurde nicht durchsucht, sagt er, vielmehr wurde ausgeschlossen, dass sie die mutmaßlichen Täter sein könnten. "Man hat alles auf mich fokussiert", sagt Viertel. Er sagt, er könne belegen, dass Akten seines Falls bei der Polizei zu seinen Ungunsten manipuliert worden seien.

Heinz-Joachim Viertel sagt zu seiner Frau gewandt: "Es ging niemals um mich, es ging nur um dich, sie wollten Infos über dich und den Widerstand." Er meint den Widerstand gegen S21. Bei der Durchsuchung habe die Polizei unter anderem eine Adressliste seiner Frau mit Kontakten zu S-21-Gegenern beschlagnahmt.

Ursula Viertel leidet mit ihrem Mann. Sie verliert sieben Kilo Gewicht. Aber sie organsiert weiterhin Demos und Veranstaltungen, geht zur Mahnwache gegen das Bauprojekt, die mittlerweile seit fünf Jahren besteht. Ihr Mann unterstützt sie darin: "Wir dürfen nicht klein beigeben, das wollen die", sagt er.

Gegen Heinz-Joachim Viertel läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses und ein Disziplinarverfahren. Am 22. Januar 2014 wird ihm die Nachricht zugeschickt, dass er vom Dienst enthoben ist, bei Kürzung seiner Bezüge um 20 Prozent. Jetzt reicht es ihm. Die Durchsuchung ist eineinhalb Jahre her. Er hat mit Hilfe eines Psychotherapeuten die Fassung so weit zurückgewonnen, dass er sich wehrt.

Viertels Anwalt spricht in einem Schreiben an das LKA, dass Viertel wegen seiner Ablehnung von Stuttgart 21 bereit gewesen sei, Reicherter Dokumente zukommen zu lassen, von einer "Unterstellung", die "durch keinerlei Tatsachen belegt und begründt, sondern offensichtlich böswillig" gewesen sei. Auch der erfahrene Jurist Dieter Reicherter kommt zu dem Schluss, dass die Ermittlungen im Fall Viertel offenbar von Irrtümern und Fehlern strotzten.

Im Sommer 2014 werden die Verfahren eingestellt

Am 24. Februar reicht Viertels Anwalt beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage gegen die Dienstenthebung ein. Reicherter wird als Zeuge vernommen. Das LKA wird zur Stellungnahme aufgefordert. Zu dieser Stellungnahme kommt es aber gar nicht. Stattdessen wird die Verfügung zur Dienstenthebung am 25. März 2014 "vollumfänglich" aufgehoben. Aus Reicherters Vernehmung habe sich entlastende Momente für Viertel ergeben, heißt es sinngemäß in der Begründung des LKA.

Der erste Dominostein war gefallen, alle anderen folgten. Im August 2014 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt, weil die Ermittlungen zur Weitergabe der Dokumente laut Gesetzestext keinen Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage ergeben haben. Im September 2014 wurde das Disziplinarverfahren eingestellt, weil "ein Dienstvergehen nicht erwiesen ist".

"Ich bin rehabilitiert", sagt Viertel heute. Am 1. Dezember 2014 ist er planmäßig in Pension gegangen. Seine Psychotherapie ist bald abgeschlossen. Aber inzwischen hat sich sein Weltbild verändert. Sein Idealismus - erschlagen von Aktenbergen und Anschuldigungen. Er sagt: "Wir haben keine Demokratie, eher eine Lobbykratie, in der die Rechtsstaatlichkeit politischen oder wirtschaftlichen Interessen geopfert wird."

Im November 2014 hat das Amtsgericht Stuttgart entschieden, dass Viertel für die Durchsuchung und das Disziplinarverfahren zu entschädigen ist. Er bekommt 541,45 Euro.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


21 Kommentare verfügbar

  • Gela
    am 29.08.2019
    Antworten
    Lieber Joe,
    du hast es geschafft. Ich gratuliere, dass du mit deiner Frau zusammen diese schwere Zeit überstanden hast.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!