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Oh, Oferdingen

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Ein ganz normales Dorf: Liederkranz, Feuerwehr und Sportverein. Nun hat der Reutlinger Stadtteil Oferdingen Schlagzeilen gemacht als fremdenfeindlicher Ort. Der Bezirksbürgermeister ist nach Morddrohungen zurückgetreten. Und manchem Oferdinger kommen Zweifel, ob das wirklich so normal ist, was hier passiert.

Wer nicht hier geboren ist, der gehört nicht wirklich dazu. Das musste auch Rita Dürr erfahren, die 20 Jahre lang im Bezirksgemeinderat saß – als einzige Frau. Dauernd musste sich einer aus dem elfköpfigen ehrenamtlichen Gremium der Stimme enthalten, "zurücksitzen", sagt sie, weil er verwandt, verschwägert oder im betroffenen Verein war. "Ich musste nie zurücksitzen", sagt die 62-jährige Lehrerin. Seit fast 40 Jahren lebt sie mit Mann und Kindern in der 2400-Seelen-Gemeinde. Was da im Rücktritt des Bezirksbürgermeisters endete, hat sie erschreckt: "Alle bestreiten Fremdenfeindlichkeit", sagt Rita Dürr, "aber ich hab ein ungutes Gefühl."

Markus Schröder ist empört. Wer ihn auf dem Handy anruft, wird mit der WM-Hymne von Andreas Bourani empfangen. "Wir sind nicht fremdenfeindlich", sagt der Sprecher des Freundeskreises Oferdingen für Flüchtlingshilfe, den manche als Tarnorganisation bezeichnen. Schließlich hat dieser angebliche Freundeskreis Unterschriften gegen das geplante Flüchtlingsheim in dem Reutlinger Teilort gesammelt. 76 Flüchtlinge seien zu viele, da kämen nur Männer, und die würden auch noch zwischen Kindergarten und Schule konzentriert. Frauen hätten Angst um ihre Kinder, trauten sich nicht mehr aus dem Haus, und der Wert der Immobilien sinke. So steht es in einem offenen Brief an die Stadt Reutlingen.

Geschacher um Flüchtlinge wie auf dem Basar

Schröder steht an der Haustür Rede und Antwort, Pulli, Hausschuhe, kratziger Hals, die ganze Familie sei krank, Ansteckungsgefahr, bitte draußen bleiben. Und so kann man während des Gesprächs zwischen Tür und Angel immer wieder einen Blick auf die Wiese werfen, um die es hier geht, auf der ein Schild warnt: Hilfe ja, Ghetto nein. Schröder ist direkter Anlieger, wie mancher dieser ganz speziellen Flüchtlingshilfe. "Sagen Sie meinen Namen nicht", sagt die Frau, die ein paar Häuser weiter ebenfalls auf der Türschwelle stehen bleibt, selbstverständlich auch im Schröderclub mitmischt, anklagend auf die Wiese zeigt und trotzig hinzufügt: "Die Morddrohungen sind schlecht. Aber es ist gut, dass der Bezirksbürgermeister weg ist. Vielleicht werden wir jetzt endlich gehört." Aber womit eigentlich?

Nicht nur Rita Dürr kommt sich manchmal vor wie auf dem Basar, wenn sie die Oferdinger Flüchtlingsdebatte betrachtet. Als der Reutlinger Sozialbürgermeister Joachim Haas im Juli bekannt gab, dass der Teilort wie alle anderen auch Anschlussflüchtlinge aufnehmen solle, wurde ihm entgegengeschleudert: niemals 76, höchstens 12! Der Oferdinger Kirchengemeinderat schloss sich in seiner Stellungnahme der dörflichen Abwehrhaltung an, erhöhte aber auf höchstens 20 Flüchtlinge. Und der Bezirksgemeinderat meinte in seiner Sitzung am vergangenen Donnerstag, jetzt doch 52 Flüchtlinge verkraften zu können.

Manchem in der Gemeinde scheint nicht klar zu sein, welche Signale sie mit diesem Geschacher nach außen senden, mancher scheint das billigend in Kauf zu nehmen. Schuld an den Morddrohungen gegen Bezirksbürgermeister Ralph Schönenborn, der sich für die Flüchtlinge eingesetzt hat, schuld an den angedrohten Anschlägen gegen die geplante Unterkunft will jedenfalls niemand sein. Doch Verantwortung lässt sich nicht so einfach wegschieben. Hass und Beleidigungen führen zu einem Klima der Angst. Die Atmosphäre ist vergiftet, der Ort zerrissen, die Dynamik kaum kontrollierbar. Und alle, die noch besonnen sind, fragen sich, wie es so weit kommen konnte.

Das fragt sich auch Pfarrer Hans-Peter Brenzel von der evangelischen Clemenskirche. Die hat einen großen Kirchturm, ein schmuckes Pfarrhaus und ist 360 Jahre alt. Hier, sagt der Pfarrer, sei man eher pietistisch orientiert, "das ist ein normaler Ort, kein braunes Dorf". 61 Jahre ist er alt, seit 34 Jahren arbeitet er als Pfarrer, in Oferdingen seit fünf Jahren, nächstes Jahr will er in Rente gehen. Sein letztes Berufsjahr hätte er sich weniger turbulent gewünscht, kurzes Schulterzucken, Brenzel lächelt, verströmt gute Laune. Der Kirchenmann könnte qua Amt Vermittler sein in diesem Dorfstreit. Doch Brenzel ist nicht zuletzt durch eine windelweiche Stellungnahme des Kirchengemeinderats längst Teil der Dynamik.

Dekan rügt Stellungnahme des Kirchengemeinderats

Immer wieder springt er auf, redet im Stehen weiter, sucht nach Erklärungen. Liegt es am Bezirksbürgermeister, selbstbewusst und geradlinig, aber zu wenig sensibel, was die Ängste der Dorfbewohner angeht? Der die Gegner des Flüchtlingsheims als fremdenfeindlich bezeichnet habe, was "viele Leute tödlich beleidigt hat"? Liegt es an der Stadt Reutlingen, die das Flüchtlingsthema "unangemessen kommuniziert" habe? Der Pfarrer setzt sich wieder, seufzt, räumt ein, dass manchen das schlechte Gewissen umtreibe: "Mancher fragt sich, bin ich nicht vielleicht doch fremdenfeindlich?" An diesem Morgen hat am alten Friedhof ein Plakat gehangen: "Refugees welcome", er habe es gesehen. Nachmittags war es verschwunden, keiner weiß, wohin. In der Ecke seines Arbeitszimmers steht ein brusthoher gekreuzigter Jesu aus Holz, über dem Wandkalender steht der Spruch "Ich glaube schon". Sein Dekan hat ihn für das Papier des Kirchengemeinderats gegen die geplante Flüchtlingsunterkunft ("Oferdingen ist überfordert") gerügt.

Ralph Schönenborn ist zurückgetreten, hat eine Erklärung abgegeben und will nichts weiter dazu sagen, hofft, dass wieder Ruhe einkehrt im Ort. Der Ex-Bezirksbürgermeister, übrigens ein Ehrenamt, hat sein Steuerberatungsbüro im Ort, er und seine Frau wohnen und arbeiten hier."Das wäre zum Schaden von Oferdingen", sagt er am Telefon, "außerdem lebe ich hier." Doch wie lange hält man Anfeindungen, Aggressionen bis hin zu anonymen Morddrohungen aus? Viele im Ort, sagt Pfarrer Brenzel, ärgerten sich heute darüber, dass Schönenborn nach seinem Rücktritt als Märtyrer dastehe. Die, die sich als Opfer einer von oben verordneten Flüchtlingspolitik sehen und ihre Abwehr laut hinausgeschrien haben, wollen ungern als Täter gesehen werden.

Andere Oferdinger ärgern sich, dass sie so lange geschwiegen haben. Wie etwa Rita Dürr, bei der die emotionsgeladene Versammlung Anfang Oktober ein ungutes Gefühl hinterließ: zu viele Redebeiträge nach dem Motto "Wir haben nichts gegen Ausländer, aber ...". "Dem muss man etwas entgegensetzen", sagte sie empört zu ihrem Mann. Der hat sie zurückgehalten. Das Klima der Einschüchterung hat gewirkt. Doch Rita Dürr will sich nicht einschüchtern lassen. Sie will sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, an einer Willkommenskultur arbeiten, sich für Flüchtlinge engagieren. In Oferdingen.

Neid, Animositäten und der Kampf gegen "die da oben"

Roland Riedl versucht in Gesprächen vor Ort zu überzeugen, dass die Angst vor dem schwarzen Mann irrational ist. Der gelernte Sozialarbeiter arbeitet bei einer Beratungssstelle in Reutlingen, er kennt den Bauer Betz, auf dessen gepachteter Wiese zukünftig nicht mehr Pferde weiden, sondern Container stehen sollen. Riedl kennt die Melange aus Neid, persönlichen Animositäten, irrationalen Ängsten und dem Kampf gegen "die da in Reutlingen", welche die Oferdinger Flüchtlingsdebatte bestimmen. Seit 30 Jahren lebt er im Ort, auch er kein gebürtiger Oferdinger. Wer nicht hier geboren ist, bleibt immer fremd, das hat auch er immer wieder gespürt. Riedl ist ein genauer Beobachter seiner Nachbarschaft, das bleibt nicht aus, wenn man einen psychoanalytisch geschulten Blick hat. Schon im Juli hat sich der 63-Jährige hingesetzt und seine Gedanken <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft das-eigene-und-das-fremde-3207.html internal-link-new-window>zu Papier gebracht, was falsch läuft bei der Oferdinger Flüchtlingsdebatte.

Das Fernsehen war in Oferdingen. Der Deutschlandfunk hat sich für diesen seltsamen Ort interessiert, der seinen Bezirksbürgermeister aus dem Amt gejagt hat. Selbst die FAZ hat angerufen, wie Pfarrer Brenzel mit einem gewissen Stolz erzählt. Inzwischen ist es ruhiger geworden in der kleinen Gemeinde. Viele, die bisher geschwiegen haben wie Rita Dürr und Roland Riedl, wollen nicht länger untätig bleiben. Bei der Reutlinger Verantwortlichen für Bürgerengagement, Anke Bächtiger, haben sich 20 Oferdinger gemeldet, die Flüchtlinge ehrenamtlich unterstützen wollen.

Die Oferdinger wollen weg vom Image des braunen Dorfs. Wenn sie in die Integration ihrer Flüchtlinge genauso viel Energie stecken wie in die Abwehr, wenn auf der Liste von Anke Bächtiger einmal 700 Unterschriften stehen wie auf der Unterschriftenliste von Markus Schröder, kann ihnen das gelingen.


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11 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 09.11.2015
    Antworten
    http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/konjunkturprognose-der-oecd-fluechtlingshilfe-koennte-wirtschaft-anschieben-1.2728631

    45 Milliarden Ausgaben = 45 Milliarden Einnahmen.
    So funktioniert antizyklische Wirtschaftsförderung.
    Wenn die Exporte sinken, sind wir froh über Binnennachfrage.

    Da…
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