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Karawane zum Pfarrhaus

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Mägerkingen auf der Schwäbischen Alb, südlich von Reutlingen gelegen, 1200 Einwohner, 50 Asylbewerber. Ob das gut geht? Offensichtlich ja. Auch weil es dort einen rührigen Pfarrer gibt. Ministerin Bilkay Öney lobt das Dorf als wunderbares Beispiel für eine gelungene Integration.

Gleich neben der Kirche von Mägerkingen, kurz hinter den zwei Bauernhöfen, dem kleinen Platz mit dem Springbrunnen und dem Gasthof Zum Hirschen, geht eine kleine Straße ab. Altes Fachwerk wechselt sich mit modernen Häusern ab, die Straßen sind gekehrt, die Gärten gepflegt. Gegenüber der freiwilligen Feuerwehr steht ein großes, hell verputztes Haus, die ehemalige mechanische Strickerei, ein Überrest der Textilindustrie auf der Schwäbischen Alb. Davor stehen kreuz und quer Dutzende Fahrräder. Sie lehnen an Bäumen, liegen auf dem Bürgersteig, sind an den zu kleinen Fahrradständer gekettet.

Pfarrer Martin Rose kennt das alles. Er ist seit 21 Jahren hier. Ohne einen Blick geht er daran vorbei und bleibt vor der Eingangstür stehen. Dann guckt er kurz auf das Klingelschild und läutet. Darauf stehen mehrere arabische Namen. Oben an der Treppe angekommen, begrüßt ihn Revan Bilal. "Hello, Mr. Rose." Bilal ist einer von rund 50 Flüchtlingen, die hier in der Unterkunft von Mägerkingen wohnen. Rose betritt einen großen Raum mit Küche, von dem mehrere Zimmer weggehen. Mehrere syrische Männer kommen aus ihren Zimmern. Rose begrüßt sie alle mit Namen. "Ich habe dir einen Termin beim Augenarzt gemacht", sagt er zu einem. "Am Mittwoch. Aber ich gebe dir noch mal einen Zettel mit der Adresse und dem genauen Termin." Die Männer sind froh, Rose zu kennen. Er ist ihre Verbindung zur deutschen Außenwelt.

Ministerin Öney sieht Mägerkingen als "Exportschlager"

Vor drei Jahren kamen die ersten syrischen Flüchtlinge nach Mägerkingen. Als Pfarrer Rose davon erfuhr, wusste er, dass er eine Grundsatzentscheidung treffen musste: Entweder hängt sich die Kirche richtig rein oder gar nicht. Rose entschied sich für Ersteres und dafür, seine Gemeinde mitzunehmen. Und mittlerweile kann er sagen: Er und die Gemeinde bekommen auch etwas zurück. Ein großes Lob von Ministerin Bilkay Öney eingeschlossen, die im Januar 2015 da war und von einem "wunderbaren Beispiel" für eine gelungene Integration sprach. Eigentlich sollte man Mägerkingen als "Exportschlager" nach Sachsen schicken.

Die Flüchtlingsunterkunft liegt im Herzen von Mägerkingen mit seinen 1200 Einwohnern, einem Teilort von Trochtelfingen, und hatte dieselbe Ausgangslage wie andere Dörfer auf der Alb. Es gab keinen Kontakt zwischen den neuen und alten Bewohnern. Keine Seite wollte den ersten Schritt machen – oder wusste, wie er zu machen wäre. Rose wollte das Eis brechen.

Jedes Jahr feiert seine Gemeinde das Erntedankfest und veranstaltet im Anschluss eine kleine Feier. Ein guter Rahmen für die Neuigkeiten, dachte Pfarrer Rose und ergriff im Oktober 2012 die Chance. "So hatten die Menschen nach der Messe Zeit, sich über das Gehörte auszutauschen." Rose sagte den Kirchenbesuchern, dass Menschen in ihr Dorf ziehen würden, die Hilfe benötigen. Menschen aus dem Nahen Osten, Muslime. Mägerkingen ist die einzige evangelische Gemeinde in der Gegend, umgeben von Katholiken. Und überhaupt, sagt Rose, je kleiner ein Dorf, desto engstirniger die Menschen. Doch für Mägerkingen lässt er das nicht gelten.

Vier Wochen nach dem Erntedank-Gottesdienst lud er die neuen Nachbarn in die Kirche ein. Es kamen sieben Syrer und eine Gruppe Flüchtlinge aus dem Balkan. Die Syrer erzählten von sich, von der Situation in ihrem Land, von der Flucht. Eine Freundin von Rose übersetzte. "Nach dem Gottesdienst haben die Mägerkinger gesagt: 'Die armen Schweine, da muss man helfen.'"

Die Leute spendeten Kleidung und brachten Spielzeuge. Der örtliche Fußballverein lud die Neulinge zum Kicken ein. Was an Schuhen, Stutzen und Hosen fehlte, wurde kurzerhand organisiert.

Der Mägerkinger Musikverein veranstaltet alle zwei Jahre am nahe gelegenen See ein Fest. Als es an die Vorbereitung ging und die Vereinsmitglieder begannen, das Zelt aufzubauen, standen da plötzlich auch sechs Syrer. Ohne viel Worte zu verlieren, packten sie mit an. Später beim Fest wollte jeder ihnen eine Cola spendieren. Der ein oder andere Syrer trank auch ein Bier, doch lang blieben sie nicht. "Es war dann wohl doch zu viel Alkohol und Schweinefleisch im Spiel", sagt Rose.

Pfarrer Rose predigt vor allem eines: Geduld

Mittlerweile kennt Rose einige Wörter Arabisch. Eins davon ist Sobr – Geduld. Er braucht das Wort für all jene, die mal wieder das Gefühl packt, dass ihr Leben an ihnen vorbeizieht, während sie in der Flüchtlingsunterkunft festsitzen und warten. Auf ihre Aufenthaltserlaubnis, einen Job, Nachrichten von Angehörigen in der Heimat.

Einer der Wartenden ist Revan Bilal. Rose geht mit dem 25-Jährigen ein Stück spazieren. Runter zu dem See, an dem alle zwei Jahre das Festzelt steht. Reden tut gut. "Alles hier ist, wie ich es mir vorgestellt habe", sagt Bilal, der nach Deutschland gekommen ist wegen der Universitäten und um einen Job als IT-Fachmann zu finden. "Nur das mit den Papieren dauert einfach zu lang."

In einer Garageneinfahrt reinigt ein Mann in Arbeitskleidung gerade mehrere Gummimatten mit einem Hochdruckreiniger. Er schaut kurz auf und grüßt. Auch vorbeifahrende Fahrradfahrer in bunten Shirts und kurzen Hosen grüßen. Andere blicken starr geradeaus, als würden Rose und Bilal nicht existieren.

In Syrien hat Bilal studiert, und jetzt will er weitermachen. Er kann es kaum erwarten. "Die scharren mit den Füßen", sagt Rose. "Es gibt derzeit keinen Deutschkurs, dabei ist das das Wichtigste. Vielleicht können wir hier im Dorf was organisieren. Oder die Männer können im Bauhof was tun."

Schon einmal hat Rose mit der Unterstützung der Leute im Dorf und Freunden die Dinge selbst in die Hand genommen. Weil es zu wenig Deutschlehrer gab und die öffentlichen Stellen nicht schnell genug reagierten, fragte er eine befreundete ehemalige Volkshochschullehrerin, ob sie den Flüchtlingen Deutschunterricht geben könnte. Daraufhin zog ein halbes Jahr lang eine kleine Karawane von Flüchtlingen jeden Morgen ins Pfarrheim, unterm Arm Schreibblöcke und Bleistifte.

Bilal überlässt unten am See Rose die Parkbank. Er selbst setzt sich ins Gras. "Einige Leute gucken komisch. Sie kennen uns nicht, wir sind fremd", sagt Bilal. "Ja, diese gewisse Verschlossenheit ist eine schwäbische Besonderheit", sagt Rose. "Nein, nein", widerspricht Bilal. "Ich denke, dass das in jedem Dorf so ist. Und sobald sie uns kennenlernen, wird es besser."

Die Flüchtlinge tun gut, sie öffnen den Horizont auf der Alb

Rashad Yahia ist vor zwei Jahren nach Mägerkingen gekommen. Er war beim Gottesdienst dabei und später auch Teil der täglichen Karawanen zum Pfarrhaus. "Der Deutschkurs war das Allerwichtigste", sagt er im Wohnzimmer seiner kleinen Parterrewohnung auf Deutsch. Wenn er die richtigen Vokabeln nicht findet, macht er das mit seiner Art wett. Aber meistens findet er die Worte, die er braucht. "Das war wie das Fundament eines neuen Hauses." An der Wand seines Wohnzimmers hängen eine deutsche und eine palästinensische Flagge. Auch er ist Syrer, seine Familie befindet sich schon zum zweiten Mal auf der Flucht. Sein Großvater floh aus Palästina nach Syrien, Yahia mit seinem Vater vor zwei Jahren nach Deutschland, vor drei Tagen fuhren seine Mutter und Schwester nachts in einem Schlauchboot von der Türkei zu einer griechischen Insel.

Yahia landete erst in einem Aufnahmelager in Karlsruhe. Es dauerte Monate, bis er seine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Die Unsicherheit setzte ihm zu, Schuppenflechten überzogen seine Haut. Er kratzte. Und auch während der Fahrt nach Mägerkingen war ihm beinahe schlecht vor Angst. Die vielen Berge, der Schnee, die kleinen Dörfer machten ihm Sorge. "Als ich gerade meine Tasche ausräumte, stand schon Rose da", sagt er. Mittlerweile kennt er seine Nachbarn. Seine Vermieterin lernte er beim ersten Gottesdienst kennen. Bis heute hilft sie ihm, wenn Behörden mal wieder Briefe in unverständlichem Amtsdeutsch schicken, und wenn er mit seinen Einkaufstüten vor dem drei Kilometer entfernten Supermarkt steht, kommt es oft vor, dass jemand ihn im Auto mitnimmt.

Morgen ist sein großer Tag: Seine Ausbildung zum Elektriker beginnt. Vor ihm auf dem Wohnzimmertisch liegt ein kleiner Bausatz. Aus einer Platine, einem Lautsprecher, zwei Drehknöpfen und einer Antenne hat er ein Radio zusammengelötet. Ob er sich vorstellen könnte, woanders zu wohnen? "Nein, ich bleibe in Mägerkingen", sagt er.

Zurück in seinem Pfarrbüro öffnet Rose erst mal die Tür, um Fiora, seine dreijährige Appenzeller-Mischlingshündin, ins Büro zu lassen und ihr den Kopf zu kraulen. Dann setzt er sich auf den Schreibtischstuhl. Es ist ein zweckmäßiges Zimmer, mit einigen Holzregalen voller Ordner und Bücher. "Die Mägerkinger leisten praktische Hilfe", sagt er. Aber nicht nur das. Sie kriegen auch etwas zurück. "Kürzlich sagte eine ältere Frau zu mir: 'Die Flüchtlinge tun uns gut. Der Kontakt mit ihnen öffnet den Horizont.'"

Und auch für sich selbst und seine Kirche sieht Rose die Flüchtlinge als Bereicherung. "Das wird uns guttun. Wir leben in solch einer satten Welt, in der fast alles beliebig ist. Anderen helfen ist da eine wundervolle Sache."


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