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Bürger, schaut auf dieses Loch!

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Sie hätte so schön werden sollen – die Aussicht auf die S-21-Großbaustelle. Aber die extra eingerichtete Plattform mit Blick auf die Bahnhofsbrache scheint nur Obdachlosen zu nutzen.

Und jetzt den Abstieg gewagt in die zur Abwicklung freigegebene Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie! Auf mittlerer Höhe dieser Spindelkonstruktion aus Rampe und Treppe mal kurz angehalten und nach unten geblickt auf diese betongefasste Ödnis, wo mastschwere Tauben wie angenagelt auf Simsen und Geländern hocken, lethargisch blöde blinzelnd.

Die Ratten dagegen arbeiten im struppig-verstrauchten Gelände flink an ihrem Tunnelsystem, hie ein Einstiegs- , da ein Ausstiegslöchlein, sozusagen ein eigenes und tatsächlich funktionsfähiges S-21-Projekt.

Nun geht es aber weiter, und man weiß auch schon, was einen auf den letzten Stufen erwartet: die gelbe Wand! Der Zusammenprall mit dieser hochkonzentrierten Masse aus Urinmolekülen, die unter und hinter der Treppe zusammengeschifft wurden und sich dann, hie und da braun abgemischt, wieder ums Eck zurückschleichen, ist immer wieder eine olfaktorische Sensation. Nein, so etwas haben andere Städte nicht zu bieten!

Aber S 21 ist ja sowieso ein Projekt der Rekorde. Im Jahr 2010 noch als "zweitgrößte Baustelle Europas" tituliert, könnte schon bald, weil der Gotthard-Tunnel nach Fertigstellung 2016 den ersten Platz ja abgeben muss, das oberste Treppchen bestiegen werden. Danach wahrscheinlich ewiger Titelträger.

Und man kann schon jetzt S 21 immer wieder beim Siegen zusehen. Einfach raus aus der Haltestelle Staatsgalerie und hinein in den Park, äh, den Expark, wo die sichtbehindernden Bäume Richtung Bahnhofsturm schon lange umgelegt sind, dafür aber seit 2012 eine Aussichtsplattform steht. "Die Bürger", so damals der S-21-Sprecher Wolfgang Dietrich, "sind neugierig auf die Baustelle und das, was hier geschieht."

Natürlich wieder Einmaliges! Während man in den Neunzigern an der Berliner Baustelle Potsdamer Platz nur sehen konnte, was in die Höhe wächst, kann man in Stuttgart viel tiefer blicken. Bürger, schaut auf dieses Loch!

Leider hat der Stuttgarter Bürger die Gelegenheit zum Lochgucken kaum genutzt. Das zehn Meter lange und etwas klapprige Rohrgerüst, auf dem irgendwann die Infotafeln nur noch Tafeln ohne Info waren, wirkte in den letzten Jahren wie ein Objekt, an dessen ursprüngliche Funktion sich niemand mehr erinnern konnte.

Aber jetzt, und ausgerechnet um Ostern herum, hat dieses Lochguckprojekt seine Renaissance erlebt – und natürlich wieder mit Rekord. Die Wikipedia-Aussage, dass einige Aussichtsplattformen "Sitzplätze, einen Kiosk und/oder ein Café" haben, muss nun ergänzt werden. Weil die Stuttgarter Plattform sogar Matratzen bietet.

Ja, da lässt es sich, mit einem Dach überm Kopf, lange leben und gucken. Hier hat einer ein friedliches Plätzchen zum Ausruhen gefunden, an dem er sich die Decke über den Kopf ziehen und den Fortschritt da unten vorbeibaggern lassen kann. S 21, ein Asyl für Obdachlose!

Aber ach, es ist auch schon wieder vorbei mit diesem Traum von einer neuen und erstmals sinnvollen Nutzung. Sie war ja auch immer, ein Täfelchen am Gerüst weist darauf hin, immer verboten. Jetzt sind die Feiertage vorbei, die Plattform ist geräumt und wieder verwaist wie eh und je. Nur zwei Bierflaschen – Hofbräu, leer – künden noch vom kurzen Frühling der Anarchie.


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1 Kommentar verfügbar

  • Tillupp
    am 22.04.2015
    Antworten
    Hoffentlich kommt es durch ein Erdbeben 2019 zu einer Verbindung zwischen Neckarbett und Gipskeuper. Vielleicht sucht sich wegen Erdhebungen ja dann auch der Neckar noch einen neuen Weg. Dann hat der Spuk21 ein Ende. Kornwestheim, Vaihingen und der Filderbahnhof werden als Durchgangsbahnhöfe…
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