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Blind und hilflos

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Warum haben CDU und SPD nicht begriffen, fragt Kontext-Autor Arno Luik, was in Stuttgart passiert? Und er gibt die Antwort: weil hier eine neue politische Kultur entstanden ist.

Warum haben CDU und SPD nicht begriffen, fragt Gast-Autor Arno Luik, was in Stuttgart passiert? Und er gibt die Antwort: weil hier eine neue politische Kultur entstanden ist.

Da blickt man von Hamburg nach Stuttgart und staunt: Eine strukturell konservative Stadt, eine Stadt, die für ihre Pietisten und ihre Kehrwoche bekannt ist, wählt die Konservativen ab. Mehr noch: Stuttgarts Bürger und Bürgerinnen strafen einen Kandidaten ab, der eine ganz große Koalition hinter sich hat: Kanzlerin Angela Merkel im fernen Berlin und vor Ort in Stuttgart die CDU, FDP und die Freien Wähler. Mit dieser geballten Macht im Rücken zu verlieren, das muss man erst mal schaffen. Sebastian Turner schaffte es. Ein Fiasko für das bürgerliche Lager.

Eine Katastrophe aber auch für die SPD.

Das Sonderbare ist: warum haben SPD und CDU nicht begriffen, was in Stuttgart passiert? Es ist erstaunlich, wie blind und hilflos sie auf die Dinge reagieren, die sie mit verursacht haben. Es ist eine Schande auch, dass diese Noch-Volksparteien unfähig waren, sich anders zu verhalten. Aber wahrscheinlich sind die großen Parteien schlicht am Ende ihrer Weisheit und ihrer Lernfähigkeit.

Die OB-Wahl in Stuttgart steht für eine neue politische Kultur. Und macht sie damit bedeutsam weit über die baden-württembergische Landeshauptstadt hinaus. In Stuttgart hat in den vergangenen Jahren eine Revolution des Denkens stattgefunden. Eine Revolution der Politik. Vielleicht ist Stuttgart ja sogar das Modell der Zukunft: Bürger, die sich von der traditionellen Politik emanzipieren.

Stuttgart ist eine andere Stadt – mit neuen Bürgern

Seit den Protesttagen von S 21 ist Stuttgart eine andere Stadt – mit neuen Bürgern. Bürger, die sich nicht mehr von den Versprechungen der etablierten Parteien verführen lassen. Die kritisch sind.

Neue Bürger in einer anderen Stadt. Foto: Martin StorzS 21 war für sehr viele Stuttgarter ein Lernschock. Sie haben erfahren, wie die ganz große Koalition aus CDU-SPD-FDP-IHK-Freien Wählern (und auch zum Teil mit Grünen, die sich zu wenig wehrten gegen S 21) das milliardenverschlingende Immobilien- und Bahnprojekt durchgezogen hat – zum Teil klandestin, häufig parlamentarische Prozesse ignorierend, oft die Spielregeln der Demokratie grob verletzend.

Sie haben erlebt, wie ein christdemokratischer Ministerpräsident, Stefan Mappus, in neofeudalistisch-absolutistischer Art den milliardenschweren EnBW-Deal durchgezockt hat, am Parlament vorbei; sie haben erlebt, wie ein gewählter MP sich von einem ungewählten Bankmanager die Wörter für dieses Geschäft hat vor- und aufschreiben lassen; sie haben erlebt, wie die Politik sich zum Knecht persönlicher Raffgier machen ließ, sie haben das alles erlebt – und sich die Augen gerieben. Nein, solch eine Politik, solch ein Politikstil ist auch für Konservative nahezu unerträglich. Nein, solch eine Politik, solchen Unanstand, kann kein Bürger, dem Werte wichtig sind, akzeptieren.

Aus Notwehr zu Mutbürgern geworden

S 21 und der EnBW-Deal: sie haben einen Schock bewirkt, der auch in den Villen in Halbhöhenlage selbstverständlich gewesenes Denken in Frage stellt. Aus Notwehr wurden die Stuttgart und Stuttgarterinnen zu Mutbürgern.

Die Quittung für all diese Parteien-Arroganz der vergangenen Jahre ist nun die OB-Wahl 2012.

Dabei hielt sich die CDU für besonders schlau: Sie schickte Sebastian Turner ins Rennen, angeblich ein Unabhängiger. Diese Parteiferne ist ein Mythos: Schon als Schüler hat sich Turner für die Union engagiert. Turner, obwohl er als Quereinsteiger verkauft wurde, ist der Politiker alten Typs: gut vernetzt in Berlin, eng vertraut mit Kanzlerin Angela Merkel. Er ist das Produkt taktischer Machtspielchen in Berlin, rüde durchgesetzt gegen viele CDU-Funktionäre vor Ort. Turner steht für all das, was die wachgerüttelten Stuttgarter und Stuttgarterinnen zu verachten gelernt haben: Mauschelei, Netzwerkerei, engste Verbindung zu Geld & Macht.

Wie fremd das Berliner Produkt in Stuttgart blieb, zeigen manche seiner Ideen. Turner sagte, sauber und sicher müsse Stuttgart sein. Wie bitte? Stuttgart (von Hamburg aus gesehen) ist so sauber, dass man aus jeder Straßenkantel quasi essen kann. Im Übrigen ist dieser Aufruf zur Sauberkeit auch eine Beleidigung für die schwäbische Hausfrau und den schwäbischen Hausmann und der uralten Tradition ihrer Kehrwoche – das kommt nicht gut an.

Und sicher? Ist Stuttgart so gefährlich wie New York oder Kapstadt, wie Turner suggeriert? Die einzig wirklich große Gefahr der vergangenen Jahre ging von Staatsorganen aus: Als am 30. September 2010 die Polizei mit Wasserwerfern gegen Schüler vorging – über 400 Verletzte gab es damals, darunter einen Rentner, dem der Strahl eines Wasserwerfers das Auge zertrümmerte. Als Schwarzer Donnerstag wird dieser Akt in die Geschichte Stuttgarts eingehen. Als der Tag, an dem das Vertrauen zwischen Bürgern und Regenten zerbarst.

Der Posten des OB ist kein Selbstverwirklichungstrip

Als eine "Herausforderung" sieht Turner für sich seine OB-Kandidatur. Das ist nett gesagt. Der Posten des obersten Herrn im Rathaus ist also eine Art Selbstverwirklichungstrip?

Und die SPD? Auch die SPD schickte eine Unabhängige ins Rennen. Und was sagte sie: "Eine Frau ist viel emotionaler als ein Mann. Das würde der Stadt guttun." Man weiß nicht, ob man heulen oder lachen soll. Wie auch immer: diese Nominierung war für die SPD ein weiterer Akt der Selbstzerstörung. Aber zu den Genossen und Genossinnen in Stuttgart kann man nicht mehr viel sagen. Diese Partei in Baden-Württemberg ist am Ende. Zerrieben zwischen dem alten Maurer- und dem Drexler/Schmiedel-Flügel. O-Ton eines schwäbischen Obergenossen aus Berlin: "Meine Partei in Stuttgart ist zerstört, abgefuckt, runtergekommen, unfähig, Kampagnen zu führen." Das Einzige, was diese Partei noch könne, sei, nach Wahlniederlagen lange Papiere zu schreiben. Dazu gibt es jetzt viel Gelegenheit.

Was nun? Wenn nicht ein Wunder geschieht, heißt der nächste OB in Stuttgart Fritz Kuhn. Dass er das am Ende seiner Politkarriere noch erleben darf, ist auch für ihn ein Wunder – für das er (Stichworte: S 21, Mappus) ziemlich wenig kann.

Spannend wird, wie Kuhn sich in den für Stuttgart wichtigen Fragen verhalten wird. Das Amt des Bürgermeisters in Baden-Württemberg ist kein Folkloreamt. Ein schwäbischer Schultes – direkt vom Volk gewählt – hat laut Gemeindeordnung außergewöhnlich viel Macht: Er sitzt dem Gemeinderat nicht nur vor; wenn er der Meinung ist, dass die Beschlüsse seines Gemeinderats für die Stadt nachteilig sind, kann er widersprechen. Und dieser Widerspruch hat aufschiebende Wirkung. S 21 – das kann man ohne Polemik sagen – ist voller Nachteile für Stuttgart. Ein weites Feld also für Kuhn.

Nutzt Kuhn die Möglichkeiten, die er als OB hat?

Kuhns Wählerschaft besteht zu großen Teilen aus S-21-Kritikern. Wird er sie enttäuschen? Nutzt er die Möglichkeiten, die er als OB hat – etwa der Bahn nicht nur kritische Fragen zu stellen, sondern auch die Rechtmäßigkeiten von einigen früheren Beschlüssen zu überprüfen, etwa auch überprüfen zu lassen, ob mit S 21 ein gesetzeswidriger Infrastrukturrückbau stattfindet? Nutzt er seine Macht? Er könnte, er müsste auch Druck machen, dass endlich die Vorgänge vom Schwarzen Donnerstag aufgeklärt werden. Ein selbstbewusster OB könnte auch neue Gutachten zu dem die Stadt völlig verändernden Großprojekt in Auftrag geben. Alles möglich, alles machbar. Auch für Kuhn? Wie verhält sich das kleinere Übel?

An seinem Agieren wird sich mitentscheiden, ob die Grünen nach ihrem derzeitigen Höhenflug den Weg von CDU und SPD gehen. Und der junge Hannes Rockenbauch für enttäuschte Grünenwähler die nahe Zukunft sein kann.

Aber: noch ist Fritz Kuhn nicht im Amt. Das entscheidet sich am 21. Oktober. "64 Jahre", sagt der SPD-Altgenosse Peter Conradi, der Kuhn unterstützt, "lebe ich in dieser Stadt. Wenigstens einmal möchte ich den OB kriegen, den ich will."

Guck mr mol!

 

Arno Luik, geboren in Königsbronn, ist Autor beim Magazin "Stern", in dem er das Projekt Stuttgart 21 nachhaltig verfolgt hat. Als Kenner Baden-Württembergs hat er sich ausgiebig mit dem Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft beschäftigt.

 


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1 Kommentar verfügbar

  • peterwmeisel
    am 10.10.2012
    Antworten
    Geist und Gier

    Das Jahr 1492 war entscheidend für diese strukturell konservative Stadt, eine Stadt, die für ihre Pietisten und ihre Kehrwoche bekannt ist. In jenem Jahr wurde in Stuttgart die Ordnung, Sauberkeit, das Selbstbewusstsein der Bürger und die Kehrwoche eingeführt.
    1492 segelte…
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