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Nie mehr Zweite Liga! Nie mehr?

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Ein Werbeträger einer ganzen Region auf dem absteigenden Ast: Der Verein für Bewegungsspiele 1893 e. V. in Stuttgart kämpft um den Klassenerhalt. Was ein Ausscheiden aus der ersten Bundesliga bedeutet, mussten Spieler, Fans und Funktionäre vor vier Jahrzehnten schmerzlich erfahren: einen Traditionsclub in der Existenzkrise.

Nie mehr Zweite Liga? Wie im ersten Abstiegsjahr 1975 steht der VfB Stuttgart nach 29 von 34 Spieltagen am Abgrund. Punktgleich mit dem Sechzehnten, Hamburger SV, auf Platz 15 und einen Zähler besser als Nürnberg. Allein die Aussicht auf die Relegation gegen den Dritten aus Liga zwo, die es damals noch nicht gab, mildert die missliche Lage ein wenig. Doch angesichts des Restprogramms mit Auswärtsspielen in Mönchengladbach, Hannover und bei Bayern München sowie der Heimpartien gegen Schalke und Wolfsburg muss der Meister von 2007, 1992, 1984, 1952 und 1950 trotz dem 2:0 gegen Freiburg mit dem Schlimmsten rechnen.

Wie damals verfügt der VfB zwar über einen – zumindest zahlenmäßig – stattlichen Kader, aber keine Mannschaft. Weder Bruno Labbadia noch Thomas Schneider oder Feuerwehrmann Huub Stevens schafften es, für so etwas wie Kontinuität oder gar Konstanz zu sorgen. Außer Schlussmann Ullreich, Kapitän Gentner und Stürmer Ibisevic (sofern der sich nicht durch unentschuldbare Disziplinlosigkeit selbst blockierte) war keiner von zeitweise 28 Profis beim jeweiligen Trainer gesetzt. Kaum hatte Ausnahmetalent Timo Werner Tritt gefasst, fand er sich auf der Auswechselbank und zwischendurch im Drittligateam wieder.

Fans geben Sportvorstand Bobic die Schuld

Dieser Kader trägt fraglos die Handschrift von Sportvorstand Fredi Bobic. Den trifft daher der geballte Unmut des VfB-Anhangs. Von kurzen Wutausbrüchen im Gefolge enttäuschender Partien abgesehen, haben die Fans hingegen dem Team in der kritischen Phase demonstrativ den Rücken gestärkt. Und erlebten immer wieder fassungslos, wie ihr VfB nach beherzten Auftritten selbst gegen die Spitzenteams des FC Bayern und Dortmund in der Schlussphase sicher geglaubte Punkte verlor. Bobic, der nach der Entlassung von Labbadia, dessen Kontrakt er kurz zuvor verlängert hatte, einen einstelligen Tabellenplatz als Saisonziel ausgab, kaschiert derweil Ratlosigkeit mit stereotypen Durchhalteparolen.

Was den VfB erwartet, wenn er sich zum zweiten Mal in der Zweitklassigkeit neu erfinden soll, scheinen weder Sportvorstand Bobic, im Fußballmanagement bisher glücklos, noch Präsidenten-Novize Bernd Wahler auch nur zu ahnen. Das Gründungsmitglied der Bundesliga ist anno 2014 mit einem Jahresumsatz jenseits der 100 Millionen Euro einem mittelständischen Unternehmen vergleichbar. Allerdings mit unvergleichlich höherem Risikopotenzial. Zwar hat die Mercedes-Benz Bank als Trikotsponsor dieser Tage ihr Engagement um drei Jahre verlängert, aber ein Abstieg schmälert den Werbewert der Partnerschaft und damit das Salär. Noch größer ist das Loch bei den Fernsehgeldern. Zwar liegt insgesamt jährlich mehr Geld im Topf (2014: 560 Mio, 2015: 615 Mio), von dem jedoch die 18 Erstligisten zu 80 Prozent – gestaffelt nach Tabellenstand – profitieren.

Schon 1975 waren die Folgen des Absturzes existenzbedrohend. In seiner Not war der kurz zuvor in einer "Nacht der langen Messer" zum Präsidenten gekürte Gerhard Mayer-Vorfelder auf Betteltour gegangen, um die drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Wie schon 1967 sollte Trainer-Urgestein Albert Sing die sportliche Misere beenden. Doch vergeblich hatte er versucht, neuerlich ein Wirgefühl bei Mannschaft und Umfeld zu wecken und auch die Medien einzubinden. "Ihr steiget mit ab!", hatte er die heimischen Sportjournalisten mit ins Rettungsboot zu nehmen versucht.

Zweite Liga: weniger Klasse und nichts in der Kasse

Als der Abstieg besiegelt war, verabschiedete sich der verhinderte Retter mit dem Rat, verwöhnte Stars wie Ettmayer und Weller zum Teufel zu jagen und den von vergangenem Glanz rührenden Dünkel auf dem Wasen wie weiland die Pest mit Pech und Schwefel auszuräuchern. Der fällige Neustart, den der ehemalige Weltklassespieler Isztvan Sztani besorgen sollte, endete im ersten Zweitligajahr auf Platz elf und riss ein weiteres Loch in den Etat. Der VfB war am Tiefpunkt seiner Vereinsgeschichte angelangt: Im Niemandsland der damals noch zweigeteilten Zweiten Liga, hinter Mannschaften wie Homburg, Bayreuth, Völklingen oder Hof.

Entsprechend die wirtschaftliche Lage: desolat. Die Hausbank hatte den Weiß-Roten aufgrund tiefroter Zahlen das Scheckheft entzogen. Und als beim Treff mit dem vom VfB umworbenen Trainerkandidaten Jürgen Sundermann, damals bei Servette Genf tätig, der als Fürsprecher beigezogene Hennes Weisweiler bei der Kontaktaufnahme in einem Genfer Nachtclub eine zweite Flasche seines Lieblingsschampus Dom Pérignon orderte, da suchte VfB-Geschäftsführer Ulrich Schäfer eilends die Toilette auf zur unauffälligen Inspektion seiner Barschaft.

Nun, das Happy End ist bekannt: Jung-Trainer Sundermann ließ sich auf das vermeintliche Himmelfahrtskommando beim abgestürzten Traditionsclub ein und stürmte mit einer Rasselbande um die Jungtalente Hansi Müller, Karlheinz Förster oder Bernd Martin, dazu aufstrebenden Kickern aus der Amateurliga wie Helmut Dietterle, Bernd Schmider, Hermann Ohlicher oder Dieter Hoeneß, geradewegs zurück ins Oberhaus und dort, angefeuert von im Schnitt 54 000 Zuschauern, sogleich auf Rang vier.

Aus aus miesen Erfahrungen lässt sich lernen

Diese wundersame Wiedergeburt der Weiß-Roten könnte als Blaupause für den jetzt – so oder so – anstehenden Umbau auf dem Wasen dienen. Um Ulreich, Gentner, Maxim, Niedermeier, Schwaab sowie Talente wie Werner, Khedira, Rüdiger, Yalzin, Funk oder Gruezo müsste sich ein bundesligataugliches Team formen lassen, mit dem sich auch ein anspruchsvoller Anhang würde identifizieren können. Dass sportlicher Erfolg nicht zwingend eine pralle Kriegskasse und/oder die Bereitschaft zu finanziellen Abenteuern voraussetzt, haben Mainz, Freiburg oder zuletzt Augsburg bewiesen. Freilich sitzen bei diesen Aufsteigern Leute in der Führungsetage, die ihre Affinität zum Fußball nicht erst im Amt erwerben müssen und die nicht zufällig auf einen Trainertypus setzen, der methodisch und taktisch neue Wege geht.

Da hat der VfB durchaus Nachholbedarf. Halbherzige Versuche in diese Richtung hat es mit Rainer Adrion Anfang 1999, mit Ralf Rangnick von Mai 1999 bis Februar 2001 und in dieser Saison mit U-17-Trainer Thomas Schneider gegeben. Nun ist – Abstieg hin, Klassenerhalt her – guter Rat teuer. Huub Stevens' Kontrakt endet im Mai. Der Name Rangnick fällt seit der Ablösung von Bruno Labbadia immer wieder. Dass er als Sportdirektor bei den Red-Bull-Clubs Salzburg und Leipzig die Saisonziele Meisterschaft in Österreich bereits erreicht beziehungsweise Aufstieg in die Zweite Liga in Sachsen so gut wie sicher hat, muss kein Hinderungsgrund sein, ihn für die Mission Erstligafußball in Stuttgart zu gewinnen. Ein Sportvorstand Bobic indes ganz gewiss. Der Rest wäre Überzeugungsarbeit. Für einen längeren Verbleib in der Zweiten Liga ist die Mercedes-Benz-Arena zu groß. Und war ihr Umbau zu teuer.

Herr Wahler, worauf warten Sie?


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